Nach dem Anschlag auf „Charlie Hebdo“: Standardeinstellungen hacken
Das Deutsche Theater Berlin reagiert mit Lesungen. Dabei zeigt sich: Wer David Foster Wallace studiert, lernt, Glaubenssätze in Zweifel zu ziehen.
David Foster Wallace sprach über verschiedene Formen der Freiheit, als er 2005 für die Absolventen des Kenyon College in Ohio eine denkwürdige Rede hielt. Er erzählte nicht den zu diesen Anlässen üblichen Quatsch, den man den frisch Examinierten mit auf den Weg gibt, sondern er sprach davon, was es bedeutet, „das Denken zu lernen“.
Er dozierte über Glauben und über die „Standardeinstellungen“ eines jeden Menschen, nicht zufällig den vorinstallierten Funktionen eines Computers verwandt. Er sprach über die Freiheit in Bezug auf Denkinhalte und über die Notwendigkeit, das scheinbar Offensichtliche immer wieder in Zweifel zu ziehen. Meinen wir diese Freiheit, die es zu verteidigen gilt?
Mit Verve liest Schauspielerin Lisa Hrdina auf einer kleinen Bühne in der Bar des Deutschen Theaters in Berlin aus „Das hier ist Wasser“, so der Titel des inzwischen viel zitierten Essays. Das Ensemble des DT hat am Montag zum spontanen Leseabend aus Anlass der Pariser Anschläge eingeladen (visuelle Installationen gibt’s auch); ein Versuch, sich den Ereignissen zu nähern. An verschiedenen Stationen liest man aus Romanen, Zeitungen, Essays, wissenschaftlichen Aufsätzen.
Von Diderot bis Dostojewski, von Lessing bis hin zu Foster Wallace. 300 Leute sind gekommen. Im Saal lesen Schauspieler Auszüge aus dem Koran. In der Nähe des Foyers werden jüdische Witze vorgetragen.
David Foster Wallace: Das hier ist Wasser / This is Water. Anstiftung zum Denken. Zweisprachige Ausgabe (Engl. / Dt.). Kiepenheuer & Witsch 2012. 64 Seiten, 4,99 Euro.
Mohammedanische Versuchungen
David Foster Wallace hätte diese Essay-Anordnung wohl gefallen. „Wir sind auch ratlos“, sagt die Schauspielerin Meike Droste gleich zu Beginn, nachdem sie aus „Mohammedanische Versuchungen“ von dem Islamwissenschaftler Stefan Weidner vorgetragen hatte. „Wir lesen und versuchen gleichzeitig zu verstehen.“ Es geht nicht darum, Erklärungen zu finden. Es geht an diesem Abend nur darum,Texte zu lesen, die Fragen stellen.
Foster Wallace’ Text ist der inspirierendste. Seine Parabel handelt von zwei Fischen, die im Strom des Wassers schwimmen und sich fragen: „Was zum Teufel ist Wasser?“ Die Fische funktionieren nach ihren „Standardeinstellungen“ tagein, tagaus – so, wie wir durch die Welt laufen. Man kann diesen Text nun noch mal neu lesen.
„Es gibt keinen Nichtglauben. Jeder betet etwas an“, heißt es. Demnach leben wir alle in „Glaubensformen, in die man nach und nach einfach so hineinschlittert.“ Der Atheismus wäre dann eine Schimäre, Glaubenssätzen folgen auch die nicht Gottgläubigen.
Der Koran des Stammtisches
Auf den Anschlag auf Charlie Hebdo werden weitere einfache Wahrheiten folgen (oder sie tun es bereits). Jeder Stammtisch hat sein Narrativ, dem er Glauben schenkt. Jede Subkultur hat ihre Dogmen. Jeder Sportverein, jede Montagsdemonstration haben ihre Welterzählung. Wir brauchen die Häretiker, ob in den Religionen, auf der Straße, in der Politik oder in den Medien. Die Freiheit, die Foster Wallace meint, ist die Freiheit zu zweifeln.
Und so zieht sich an diesem Abend ein sehr selbstverständlicher Faden von Denis Diderot, der 1749 für die Erkämpfung dieser Errungenschaften ins Gefängnis ging, und Gottfried Ephraim Lessing bis in die Gegenwart zu Foster Wallace.
Im Deutschen Theater fand das statt, was Kultur leisten kann in solchen Momenten: Texte wurden hierarchiefrei nebeneinandergestellt, sie öffneten neue Denkräume. Im Reinhardtzimmer sprach man in schummrigen Licht über Lessings Auseinandersetzungen mit dem Pastor Johann Melchior Goeze („Anti-Goeze“). Lessing suchte die „Buchstabenhörigkeit“ und die Bibel durch die Vernunft und den Geist zu ersetzen.
Das scheinbar Offensichtliche immer wieder in Zweifel zu ziehen, heißt, die Perspektive zu wechseln, sich etwa in „gemäßigte Muslime“ hineinzuversetzen und sich zugleich zu fragen, wovon wir reden, wenn wir von gemäßigten Muslimen reden. Wenn wir Freiheit meinen, so heißt das, immer wieder unsere eigenen „Standardeinstellungen“ zu hacken.
Besser konnte das Foster Wallace sagen: „Die wirkliche Freiheit erfordert Aufmerksamkeit und Offenheit und Disziplin und Mühe und die Empathie, andere Menschen wirklich ernst zu nehmen und Opfer für sie zu bringen, wieder und wieder, auf unendlich verschiedene Weisen, völlig unsexy, Tag für Tag. Das ist wahre Freiheit.“
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