Nach Präsidentschaftswahlen in Bolivien: Vor dem Neuanfang
Die Linkspartei MAS gewinnt die Wahlen in Bolivien klar. Ihr Kandidat Arce hat versprochen, anders zu regieren als früher. Andere sinnen auf Rache.
„Das ist sicher ein Grund, weshalb es ruhig geblieben ist“, sagt Musikstudent Rolando Benito. Benito hat für Arce gestimmt. Dem Wahlergebnis vertraut er, „vor allem wegen der internationalen Wahlbeobachtung“.
Vereinzelte Proteste in Santa Cruz, Cochabamba, Sucre und Potosí kommen von Gruppen, die dem drittplatzierten Kandidaten Luis Fernando Camacho nahestehen. Der ultrarechte evangelikale Unternehmer aus der Agrarindustriehochburg Santa Cruz im Tiefland war 2019 ein Anführer der Opposition gegen Morales gewesen. Obwohl er betont, kein Politiker zu sein, erzielte er mit seiner Bewegung Creemos („Wir glauben“) nach derzeitigem Stand 14 Prozent.
Drohungen gibt es dennoch. Der Menschenrechtsaktivist und ehemalige Rektor der Universität UMSA in La Paz, Waldo Albarracín, machte am Dienstag öffentlich, dass er Morddrohungen erhalten habe und um die Sicherheit seiner Familie fürchte. Im November 2019 hatten Morales-Anhänger sein Haus angezündet.
Politikwissenschaftlerin Nadia Guevara berichtet, dass Bekannte sich wegen Drohungen und anonymen Anrufen aus MAS-Kreisen überlegt haben, das Land zu verlassen. Sie hat auf Facebook Freunde gelöscht, die nach dem Wahlsonntag eine aggressive MAS-Drohrhetorik an den Tag gelegt hatten.
Gräben in der bolivianischen Gesellschaft
Über ähnliche Attacken in umgekehrte Richtung hatte Rolando Benito – aus Angst damals unter Pseudonym – 2019 nach dem Rücktritt von Morales berichtet. Freunde hörten auf, mit ihm zu reden, weil er MAS-Anhänger war. Jetzt ändert sich das wieder.
„Wie geht es dir? Wie gut, dass das jetzt vorbei ist“, hätten ihm mindestens sieben Freunde nach der Wahl geschrieben, sagt er – nach Monaten Funkstille. Er antwortete ihnen. Aber er vermeide politische Themen. Es wird dauern, bis die Gräben in der bolivianischen Gesellschaft überwunden sind.
Donnerstagmorgen waren über 90 Prozent der Stimmen ausgezählt. Luís Arce (MAS) lag mit über 54 Prozent vorn, der zweitplatzierte Carlos Mesa (Comunidad Ciudadana) bei 29 Prozent. Das ist für Arce deutlich mehr als Umfragen vor der Wahl prognostiziert hatten, sogar mehr, als Morales bei der umstrittenen Wahl 2019 erzielt haben soll. Zudem herrschte am Sonntag Rekordwahlbeteiligung.
Der Technokrat Luís Arce habe wegen drei Versprechen mehr als 50 Prozent der Stimmen erreicht, analysiert der Journalist Pablo Ortiz: Erstens habe er die Amtsführung von Morales kritisiert und eine Regierung mit einem neuen, jungen Führungsteam versprochen. Zweitens habe Arce versprochen, nur fünf Jahre zu regieren, und so die Angst zerstreut, die MAS würde die Macht nie wieder loslassen. Drittens habe er versprochen, dass mit ihm keine politische Verfolgung und Revanchismus zurückkämen.
MAS-Anhänger*innen verunglimpft
Politikwissenschaftlerin Guevara, die Angst vor Revanchismus hat, war vor einem Jahr gegen eine vierte Amtszeit von Morales auf die Straße gegangen. Heute kann sie verstehen, dass eine Mehrheit für MAS gestimmt hat. Die protestierende Jugend habe 2019 einen Wandel nach 14 Jahren „Evo“ gewollt und mehr Demokratie – stattdessen bekam sie Übergangspräsidentin Jeanine Áñez mit dem ultrarechten, bibel-schwenkenden Camacho.
„Uralte ultrakonservative Führungspersonen schlossen sich an“, sagt Guevara. MAS-Anhänger*innen seien als dumm verunglimpft worden. „Das ging soweit, dass Leute ohne Mundschutz auf der Straße mit masistas gleichgesetzt wurden.“
Der unterlegene rechte Kandidat Carlos Mesa habe sich von diesen Ultrarechten nicht deutlich distanziert, sagt Guevara. Das habe ihn Stimmen gekostet. Vor allem aber habe er anders als 2019 überhaupt keinen Wahlkampf bei den einfachen Leuten gemacht, nur im Fernsehen und in den sozialen Medien. Dabei haben viele Menschen in Bolivien kein stabiles Internet. Arce und sogar Camacho gingen hingegen hinaus in die ärmeren Viertel und aufs Land.
„Mesa ist super intelligent, ein Intellektueller“, sagt Guevara über den Wahlverlierer. „Es ist eine Freude, ihm zuzuhören. Aber ich kann mir nicht vorstellen, dass er schon einmal auf dem Markt Gemüse eingekauft hat.“ Ihm fehle Empathie für Menschen außerhalb seiner bürgerlichen Akademikerwelt. Sein Vize sei ähnlich, während Arce mit einem indigenen Vize punktete.
Bolivien steckt tief in der Krise. Wahrscheinlich muss die Währung abgewertet werden. „Von Arce werden die einfachen Leute diesen Schritt eher akzeptieren, weil sie ihn mögen“, meint Guevara. Auch in der Covidpandemie könnte Arce besser durchgreifen: „Wenn wir wieder in Quarantäne müssen, kann niemand mehr sagen, das sei eine Verschwörung der Rechten.“
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Israelische Drohnen in Gaza
Testlabor des Grauens
Bundeskongress der Jusos
Was Scholz von Esken lernen kann
Politikwissenschaftlerin über Ukraine
„Land gegen Frieden funktioniert nicht“
Proteste bei Nan Goldin
Logiken des Boykotts
Bündnis Sahra Wagenknecht
Ein Bestsellerautor will in den Bundestag
Schwedens Energiepolitik
Blind für die Gefahren