Nach Polizeiattacke auf Datenschutz-Demo: Brisante Notizen verschwunden
Nach der Polizeiattacke auf einen Demonstranten vermisst dieser ein Papier, auf dem Notizen über brutale Beamte stehen sollen. Auch die neueste Mitteilung der Behörde sagt dazu nichts
Vier Tage nach der Polizeiattacke auf einen Demonstranten in Berlin suchen Anwälte, Beamte und Bürgerrechtler nach einem Stück Papier. "Mein Mandant vermisst den Zettel, auf dem er sich das Aussehen, die Kleidung und die Nummern gewalttätiger Polizisten notiert hat", sagte der Berliner Rechtsanwalt Jony Eisenberg am Dienstag. "Seine Notizen wurden ihm weggenommen und die Polizei hat ihm nicht wie üblich eine Quittung ausgestellt." Die Ermittler der Polizei müssten nun prüfen, ob Beweismittel beiseite geschafft worden seien.
Ähnliche Vorwürfe erhebt auch Andy Müller-Maguhn vom Chaos Computer Club. Die Hackerorganisation analysiert den Vorfall für die Bürgerrechtsbewegung. "Nach Aussagen des Opfers ist ihm der Zettel mit seinen Notizen von der Polizei entwendet worden", sagt Müller-Maguhn. Auf diesem Zettel habe sich der Mann Details über Polizisten notiert, die zuvor eine Frau auf äußerst rüde Art festgenommen haben sollen.
Polizeipräsident Dieter Glietsch sagte der taz, er habe erst seit Dienstag Kenntnis von den Notizen: "Ich weiß nicht, wo sie sich befinden. Auch das wird vom Landeskriminalamt ermittelt."
Das gesuchte Blatt Papier könnte der Grund für den anscheinend unmotivierten Angriff auf den Demonstranten sein. Am Sonnabend gegen 19.20 Uhr wurde H. während einer Demonstration gegen Überwachung von einem Polizisten mehrfach ins Gesicht geschlagen. Mehrere Protestteilnehmer filmten die Szene, noch in der Nacht auf Sonntag fanden die Bilder über das Internet eine rasend schnelle Verbreitung.
Auf dem Video ist keine Provokation erkennbar. H. schreibt lediglich etwas auf den besagten Zettel und will dann weggehen. Ein Polizist läuft ihm nach und zerrt ihn zurück. Danach versetzt ihm ein anderer Beamter Fausthiebe und H. wird von Uniformierten weggeschafft.
Gefilmt wurde die Szene, weil sie sich ganz in der Nähe des Demonstrationswagens des Chaos Computer Clubs abspielte. Von den technikaffinen Hackern hatten einige eine Kamera dabei.
Auch die zuvor festgenommene Frau soll laut Aussage eines CCC-Mitglieds gegenüber der taz dem Chaos Computer Club angehören. Sie sei zwischen 19 und 22 Jahren alt und Berlinerin. Polizisten hätten ihr während der Festnahme in den Unterleib getreten, sagt der Hacker weiter. Daraufhin habe H. sich beschwert und die Dienstnummer der beteiligten Beamten wissen wollen.
Club-Sprecher Müller-Maguhn will das nicht bestätigen. Er sagt, man habe für den gesamten Vorfall derzeit "etwa zehn Augenzeugen, von denen schriftliche Aussagen zu diesem Vorfall vorliegen. Mit diesen Aussagen würden diese Zeugen auch vor Gericht gehen."
Das wird vielleicht notwendig sein, denn die beteiligten Polizisten haben H. laut Polizeipräsident Glietsch wegen Widerstandes gegen Vollzugsbeamte angezeigt. Gegen zwei beteiligte Beamte wiederum ermittelt das Landeskriminalamt wegen Körperverletzung im Amt. Glietsch sagte, die beiden Polizisten seien derzeit im Innendienst eingesetzt. Eine Suspendierung lehnte er beim derzeitigen Stand der Ermittlungen ab.
Glietsch sagte weiterhin, dass die auf dem Video zu sehenden Polizisten dem Fragesteller H. ihre Dienstnummern hätten geben müssen. "Es gibt eine klare Dienstanweisung, nach der die Nummer herauszugeben ist", sagte Berlins Polizeipräsident. Ausnahmen gebe es nur, wenn "besondere Umstände eine Herausgabe der Nummer nicht zulassen." Solche Umstände könne er aber in der gefilmten Situation nicht erkennen, "die Herausgabe der Dienstnummer wäre meines Erachtens durchaus möglich gewesen."
Berlins oberster Beamter trat außerdem Gerüchten entgegen, dass die Verbreiter des Videos von der Polizei wegen des Verstoßes gegen das Kunsturheberrechtsgesetz angezeigt worden sind. "Ein solcher Verstoß gegen das Gesetz liegt meines Erachtens nach nicht vor."
Inzwischen sind auch verschiedene andere Videos im Internet aufgetaucht, unter anderem eine Version des Vorfalls aus anderer Perspektive und eine Aufnahme, welche die Sekunden vor der Polizeiattacke zeigt.
Die Polizei Berlin hatte das Agieren der Beamten in einer ersten Pressemitteilung vom Sonntag damit gerechtfertigt, dass H. Beamte bei ihrer Arbeit gestört habe und einem Platzverweis nicht nachgekommen sei. Diese Version lässt sich mit den Videoaufnahmen allerdings nur schwer in Einklng bringen.
Dazu sagte Glietsch am Dienstag zur taz: "Unsere Mitteilung wurde auf der Basis der Erkenntnisse verfasst, die die Pressestelle zu diesem Zeitpunkt hatte. Inwieweit dies den tatsächlichen Geschehnissen entspricht, prüfen wir gerade. Noch heute wird es dazu eine neue Presseerklärung geben."
Doch die neue Mitteilung, die auf 18.15 Uhr am Dienstag datiert ist, bringt de facto nichts Neues. Erwähnenswert ist, dass die Polizei offenbar der Forderung von Rechtsanwalt Jony Eisenberg nachgekommen ist und die Sichtweise seines Mandanten zumindest in einem Satz in die Mitteilung Eingang gefunden hat: "Dieser [H.] ließ durch einen Rechtsanwalt mitteilen, dass diese Schilderung [die in der ersten Pressemitteilung, Anmerkungen - die Red.] falsch sei."
Außerdem ist der Ton der Mitteilung distanzierter gegenüber der Schilderung der am Übergriff beteiligten Polizisten. Die Pressestelle macht sich deren Geschichte nicht mehr zu eigen, sondern zitiert sie nur als eine mögliche Version: "Gemäß der ersten Pressemeldung der Polizei hatten die Beamten angeführt, dass es im Zusammenhang mit der Überprüfung eines Lautsprecherwagens zu massiven Störungen ihrer Maßnahmen gekommen sei."
Polizeipräsident Glietsch hatte im Gespräch mit der taz allerdings mehr versprochen: "Wenn die Pressemitteilung falsch war, werden wir sie berichtigen." Die Prüfung könne natürlich etwas anderes ergeben, sie solle jedenfalls am Dienstag noch abgeschlossen werden.
Das ist offensichtlich nicht der Fall.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Debatte um SPD-Kanzlerkandidatur
Schwielowsee an der Copacabana
BSW und „Freie Sachsen“
Görlitzer Querfront gemeinsam für Putin
Urteil nach Tötung eines Geflüchteten
Gericht findet mal wieder keine Beweise für Rassismus
Papst äußert sich zu Gaza
Scharfe Worte aus Rom
Aktienpaket-Vorschlag
Die CDU möchte allen Kindern ETFs zum Geburtstag schenken
Wirtschaftsminister bei Klimakonferenz
Habeck, naiv in Baku