Nach Messerattacke in Australien: Sorgfalt ist mehr als Zurückhaltung
In Sydney tötet ein Mann sechs Menschen, fünf davon sind weiblich. Trotzdem sieht die Polizei keine Hinweise auf einen ideologischen Hintergrund.
W enn irgendwo in der Welt ein Schuss fällt, weiß in den sozialen Medien meist schon nach einer Minute irgendjemand, wer da auf wen aus welchem Grund geschossen hat. So war es auch nach dem tödlichen Angriff in Sydney am Wochenende, bei dem ein Mann sechs Menschen mit einem Messer getötet hat.
In den Stunden nach der Attacke verbreitete sich bei X, ehemals Twitter, ein Foto des vermeintlichen Täters, User mutmaßten, er käme aus dem „Nahen Osten“ und sei Dschihadist. Kurz darauf wurde die Identität des Mannes veröffentlicht, der fälschlicherweise beschuldigt wurde: ein jüdischer Professor für „Middle East Studies“. Der Name und sein Foto gingen viral. Doch mit dem Täter hatte er nichts zu tun. Es war eine Falschmeldung.
Besonnene Zurückhaltung wird bei X, Instagram und Co nicht belohnt. Wildes Spekulieren, dazu noch antisemitisches, dagegen schon. Deswegen passiert es nicht selten, dass sich kurz nach öffentlichen Straftaten Dutzende Theorien im Netz verbreiten. Auch Boulevardmedien schließen sich dem gerne an. Dabei ist es die Aufgabe des Journalismus, nicht in dieses Raunen einzusteigen, sondern über das zu berichten, was gesichert ist, und klarzustellen, was unklar ist. Das gehört zur journalistischen Sorgfaltspflicht.
Zugleich darf diese gebotene Zurückhaltung aber nicht zu einem naiven Weggucken und Verkennen von gesellschaftlichen Problemen führen. Das gilt gerade für Themen, bei denen Sicherheitsbehörden und Justiz bis heute blinde Flecken haben.
Aussagen der Behörden irritieren
Fünf der sechs Opfer, die ein 40-jähriger Australier in einem Einkaufszentrum, das in der Nähe des berühmten Bondi Beach liegt, tötete, waren weiblich. Das einzige männliche Todesopfer war ein Wachmann, der versucht hatte, den Attentäter aufzuhalten. Auch ein Großteil der 12 Verletzten sind Frauen.
Die Polizeipräsidentin des Bundesstaats New South Wales, Karen Webb, sagte, dass auf den Überwachungskameras des Einkaufszentrums zu sehen sei, wie der Mann mit seinem langen Messer überwiegend Frauen verfolgte. Dem Fernsehsender ABC sagte sie: „Es ist für mich und für die Ermittler offensichtlich, dass sich der Täter auf Frauen konzentriert und die Männer gemieden hat.“ Es ist erfreulich, dass die Polizei dies so eindeutig kommuniziert.
Doch die weiteren Aussagen der Behörde irritieren. Webb sagt, der Täter soll schon lange psychische Probleme gehabt haben und dass es keine Hinweise auf ein ideologisches Motiv gebe. Und mehr noch: Ein terroristischer Hintergrund sei ausgeschlossen.
Doch wie kann man ein gezieltes Töten von Frauen erkennen und gleichzeitig ein ideologisches Motiv ausschließen? Hinter so einer Aussage steckt Unwissen oder beabsichtigtes Wegschauen. Zumindest macht es die Gefahr, unter der Frauen tagtäglich leben müssen, unsichtbar: Denn Misogynie ist kein Einzelphänomen, sondern eine Struktur, die sich durch alle Bereiche der Gesellschaft zieht.
Femizid als Terror
Im vergangenen Dezember wurde in Kanada zum ersten Mal ein Täter eines Femizids wegen Terrorismus zu einer lebenslangen Haft verurteilt. Der damals 17-Jährige hatte vor vier Jahren vor einem Massagesalon in Toronto die 24-jährige Angestellte Ashley Arzaga getötet und zwei weitere Menschen verletzt. In seiner Tasche befand sich zur Tatzeit ein Zettel, auf dem Gewalt gegen Frauen propagiert wurde.
Das Gericht sah darin die Tat eines „Incel“. Hinter dem Wort, eine Abkürzung für „unfreiwilligen Zölibat“, steckt eine frauenverachtende Ideologie, laut der sich Männer als Opfer sehen, denen ein vermeintliches Recht auf Sex verwehrt bleibe.
Dass in Kanada so eine Form der geschlechtsspezifischen Gewalt als Terror eingestuft wurde, ist ein Novum. Eine wichtige Signalwirkung für alle Welt, hieß es damals. Doch die Signalwirkung lässt bislang eher auf sich warten. Das zeigt auch der Umgang mit dem Fall in Bondi Beach.
Öffentlichen Druck erzeugen
Der Vater des Attentäters von Sydney sagte in einem Interview mit australischen Medien, dass sein Sohn „verzweifelt eine Freundin“ gewollt habe. Das muss nichts mit dem Tatmotiv zu tun haben – aber ausschließen sollte man es auch nicht.
Medien sollten deshalb Aussagen von Behörden nicht einfach unhinterfragt übernehmen – gerade dann nicht, wenn die Ermittlungen, wie im aktuellen Fall von Sydney, noch nicht abgeschlossen sind. Das Hinweisen auf mögliche politische Motive kann zudem öffentlichen Druck erzeugen, der Behörden zwingt, diesen nachzugehen. Denn auch der begründete Verweis auf den gesellschaftlichen Kontext von Straftaten und ein Bewusstsein dafür gehören zur journalistischen Sorgfaltspflicht.
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