NRW streitet um Fall Amri: Wurde Berlin-Attentäter unterschätzt?
Haben die Behörden die Terrorgefahr von Anis Amri unterschätzt? Die Opposition beklagt Fehler und Ungereimtheiten.
Eine Abschiebehaft sei rechtlich nicht möglich gewesen, bekräftigte Jäger. Bundesinnenminister Thomas de Maizière (CDU) hatte kürzlich widersprochen: Es sei keineswegs unmöglich gewesen, Amri in Abschiebehaft zu nehmen. Ein Gefährderstatus sei kein Haftgrund, sagte Jäger am Donnerstag. „Es gibt derzeit keinen einzigen Gefährder in Deutschland, der in Abschiebehaft ist.“ Im Bund werde derzeit geprüft, ob hier eine rechtliche Änderung nötig sei.
Die für Amri zuständige Ausländerbehörde Kleve habe mit Nachdruck versucht, Passersatzpapiere aus Tunesien zu besorgen, um den 24-Jährigen abschieben zu können, betonte der SPD-Politiker. Die tunesischen Behörden seien nicht kooperativ gewesen. Erst zwei Tage nach dem Attentat – also am 21. Dezember – sei ein Schreiben aus Tunesien eingegangen, in dem Amri als deren Staatsbürger identifiziert worden sei. Der abgelehnte Asylbewerber hatte bei einem Anschlag am 19. Dezember in Berlin zwölf Menschen getötet.
FDP-Vizefraktionschef Joachim Stamp sagte, es dränge sich der Eindruck auf, dass Amri zwar als islamistischer Gefährder, aber zugleich auch als „kleiner Fisch“ eingeschätzt worden sei. Er sei möglicherweise „an der langen Leine“ gehalten worden, um über ihn an andere Personen aus der islamistischen Szene heranzukommen. Daher sei auf Haft und strenge Meldeauflagen verzichtet worden. Grünen-Politikerin Monika Düker warf Stamp daraufhin eine „Verschwörungstheorie“ vor.
Hannelore Kraft sagt weitere Aufklärung zu
Der stellvertretende Vorsitzende des CDU-Fraktion, Peter Biesenbach, kritisierte, das Innenministerium lege den Abgeordneten täglich neue Details vor, die aber alle nicht zusammenpassten. Es bleibe bei Ungereimtheiten und offenen Fragen. So sei auch unklar, warum nicht alle Strafverfahren gegen Amri bei einer Staatsanwaltschaft gebündelt wurden, um den Tunesier so festzunehmen zu können. Der CDU-Abgeordnete Christian Möbius warf dem Ministerium „eklatantes Weglassen“ von wichtigen Informationen vor. Die SPD wiederum sprach von Wahlkampfmanövern der Opposition.
Auch zur Haftentlassung des Gefährders aus der Justizvollzugsanstalt Ravensburg nach zwei Tagen am 1. August 2016 stellten CDU und FDP bohrende Fragen. Jäger sagte dazu, die Ausländerbehörde Kleve habe Kontakt mit der Justiz in Ravensburg aufgenommen und erklärt, warum ein Antrag auf Abschiebehaft unrechtmäßig gewesen wäre. Dies sei „nicht auf Weisung“ seines Hauses erfolgt.
NRW-Ministerpräsidentin Hannelore Kraft (SPD) hatte bei einer Unterrichtung im Landtag vor einigen Tagen weitere Aufklärung zugesagt. Der Gießener Strafrechtler Bernhard Kretschmer soll als „regierungspartei-unabhängiger“ Sonderbeauftragter mögliche Fehler der Sicherheitsbehörden bis März offenlegen. CDU, FDP und Piraten prüfen noch, ob sie einen Parlamentarischen Untersuchungsausschuss beantragen.
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