Mythos Überwachung: KOMMENTAR VON CHRISTIAN SEMLER
Stets wurde uns bei der Einführung neuer Überwachungs- und Kontrollinstrumente nach dem 11. 9. 2001 versichert, die Regierung ließe sich von einem Abwägungsmodell leiten. Die notwendigen gesetzlichen Maßnahmen zur Prävention beziehungsweise zur Verfolgung von Straftaten müssten gegenüber den Grundrechten so gefasst werden, dass deren Freiheitskern keinen Schaden nehme. Diese Versicherung war nie mehr gewesen als ein Ruhigstellungsversuch für nervöse liberale Geister. Wie sehr sich allerdings die Gewichte bei dieser angeblichen Abwägung zwischen Freiheit und Sicherheit in Richtung Letzterer verschoben haben, machen die regierungsoffiziellen Reaktionen auf das jüngste Urteil des Bundesgerichtshofs klar. Dort wird der Einsatz von „Trojanern“ gegen Festplatten ohne vorhergehende gesetzliche Grundlage verboten.
Dass die Spionage-Software der „Trojaner“ unbedingt notwendig sei, begründet der deutsche Innenminister mit dem Argument, man müsse dem Gegner technologisch auf gleicher Augenhöhe begegnen. Deshalb könne auch bei der Überwachung keine Rücksicht auf den Schutz der Privatsphäre genommen werden. Schließlich könnten gerade private Details den Terroristen als Tarnmantel für ihre Kommunikation dienen. Auch ginge es nicht an, ein für allemal Grenzen der Überwachung festzulegen, wie es dummerweise noch bei der Verwendung von Daten der Maut geschehen sei. Selbst eine zentrale Speicherung von biometrischen Daten bei Ausweisen könne nicht für alle Zukunft ausgeschlossen werden – denn das Verbrechen schläft nicht und bedient sich stets der avanciertesten technischen Mittel. Im Übrigen gilt doch: Wer nichts zu verbergen hat, hat auch nichts zu befürchten.
Wie das Trojanische Pferd entstammt auch die Vorstellung, mittels Trojanern dem Verbrechen auf die Spur zu kommen, dem Mythos. Sie nährt sich von der technischen Wahnidee perfektionierter weltweiter Überwachung. Was aber, wenn der Gegner vom Gebrauch modernster Technik Abstand nimmt, wenn Bin Laden nicht mehr zum Satellitentelefon greift und die Terroristen das Internet verschmähen? Ein Schreckensszenario für alle Anbeter des „Sonnenstaats“.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen