Mythos Mutterschaft: Ach, Mutter
Die eine bereut, Mutter geworden zu sein. Die andere hat ihre Kinder nach der Trennung beim Vater gelassen. Wie Frauen eine alte Rolle neu interpretieren.
Frau sein.
Schwanger sein.
Komplett sein.
Jetzt, gegen ein Uhr an diesem warmen Tag im Mai, sitzt Weber eine Stunde lang entspannt da, mit einem Kaffee in der Hand, isst ein Stück Schokolade und erzählt. Mit 27 Jahren, mehr als ein Jahrzehnt nach ihrem Traum, wurde Karo Weber wirklich schwanger. Sie empfand das tatsächlich als etwas Erfüllendes. Bis zur Geburt. Bis zu dem Septembertag im Jahr 2010, als sie im Krankenhaus lag, nackt, mit gespreizten Beinen.
Wenn sie über die Geburt ihres Sohnes spricht und die Zeit danach, macht sie oft Pausen zwischen dem Reden. Dann schweift Karo Webers Blick über die Wiese mit den Ahornbäumen, in denen Vögel zwitschern. Und weil es in dieser Geschichte nicht nur um sie, sondern auch um ihr Kind geht, hat sie darum gebeten, dass sie beide nicht mit ihren richtigen Namen darin auftauchen. Es ist eine Geschichte über das Leben als Mutter. Über das Hadern damit.
Am Ende Kaiserschnitt
„Der Geburtsprozess hat mich traumatisiert“, erzählt Karo Weber. „Ich kam mir vor wie beim Fleischer. Ab und zu kommt jemand rein, zack, greift dir zwischen die Beine und guckt, wie weit dein Muttermund schon geöffnet ist.“ Am Ende wurde es ein Kaiserschnitt. Weber erinnert sich an diesen Moment nach dem Aufwachen: Ein Baby lag neben ihr. Ihr Baby. Aber bevor sie glücklich darüber war, war da die Panik: „Oh Gott, was soll ich jetzt machen.“
Es ließe sich sagen, dass zwar nicht alles planmäßig lief, es aber mit einem Happy End ausging. Karo Weber war gesund, ihr Sohn auch. Aber ihre Geschichte ließe sich auch so erzählen, dass die Idee, wie eine gute Mutter zu sein hat, schon früh in uns verankert ist. Dass es erschreckend sein kann, wenn das eigene Gefühl vom Ideal abweicht. Wenn man eben nicht intuitiv weiß, was man mit einem Baby anfangen soll. Und Webers Geschichte erzählt davon, wie eine Frau die Kontrolle verliert. Über ihren Körper, ihr Leben.
Blauäugig sei sie gewesen, sagt Karo Weber. „Ich dachte, ich werde mein Baby haben, wir werden uns lieb haben, alles wird gut.“ Sie hat ihr Kind lieb. Aber es wurde nicht alles gut.
Karo Weber sagt: „Wenn ich die Wahl hätte, unter den gleichen Umständen, dann würde ich das Kind nicht noch einmal bekommen.“
Die ersten anderthalb Jahre hat Weber genossen, doch mit der Zeit verlor sie ihren Freundeskreis, in dem noch niemand Kinder hatte. Sie zog aus Berlin weg, zurück in ihre Heimatstadt Leipzig, um ihre Eltern in der Nähe zu haben. Der Vater des Kindes verließ sie. Er kümmert sich nicht, zahlt keinen Unterhalt. Sie rechnet im Supermarkt, ob sie Geld für das Küchenpapier mit dem eingestanzten Muster hat. Details sind ihr wichtig. In ihrem Wohnzimmer sind die Farben von Gardine, Teppich und Teelicht aufeinander abgestimmt – Lila und Fliedertöne.
Wieder ein Zug an der Zigarette. Sie hat ein schlechtes Gewissen, wenn sie ungeduldig ist, laut wird. Sie möchte eine gute Mutter sein.
Wer ist im Jahr 2016 eine gute Mutter?
Karo Weber muss nicht lange überlegen. „Eine gute Mutter ist immer präsent“, sagt sie. „Sie ist immer ein gutes Vorbild. Sie ist immer glücklich. Sie trinkt keinen Prosecco um vier. Und sie benutzt nie das böse S-Wort.“ Eine gute Mutter ist eine, die nicht „Scheiße“ sagt.
„Wenn ich mit meiner Freundin am Rand des Spielplatzes sitze, mit meiner Zigarette und einem Piccolo in der Hand und keine Lust habe, Sandburgen zu bauen“, sagt Karo Weber, „dann scherzen wir immer: Wir schlechten Mütter.“
Gute Mutter, schlechte Mutter. Gibt es nichts dazwischen? In unseren Mythen symbolisieren zwei Figuren recht gut das schwarz-weiß gezeichnete Mutterbild in Westeuropa: Maria und Medea. Medea, die Königstochter aus der Argonautensage, bringt aus Eifersucht ihren Exmann um und ihre Kinder. Sie, manchmal dargestellt mit zwei Kindern und einem Dolch, ist das Worst-Case-Szenario der Mutterschaft: rachsüchtig, impulsiv, mörderisch.
Mit Maria beginnt das Neue Testament, die Grundlage des Christentums, sie gebiert Jesus, ohne vorher Geschlechtsverkehr zu haben. Unbefleckt. Rein. Maria wird oft mit einem langen Mantel dargestellt, unter dem sie eine Schar von Gläubigen schützt, die Kinder Gottes.
Der Sonne entgegen
Heute holen Lucas Großeltern ihn von der Kita ab. Nur deshalb hat Weber Zeit, über ihr Leben mit ihrem 5-jährigen Sohn zu reden. Der Morgen fing rasant an. Zehn vor sieben trällerte noch eine Frauenstimme aus dem Radio, da rief Karo Weber aus der Küche: „Komm Schatz, jetzt anziehen.“ Dann huscht sie in türkiser Jogginghose und pinken Pantoffeln ins Kinderzimmer.
Luca sitzt in Unterhose mit halb hochgezogener blauer Jeans auf seinem Hochbett und brabbelt vor sich hin. Beim Anblick seiner Mutter zieht er sofort seine Hose hoch. Es muss jetzt schnell gehen. Während Luca ins Bad geht und sich langsam die Zähne putzt, kämmt sich Karo Weber rasch die langen blondierten Haare, dann läuft sie ins Schlafzimmer, Luca tippelt hinterher, schmeißt sich mit Schwung aufs Bett. Die sorgsam gefaltete Decke neben ihm plustert sich auf. Er rollt sich auf den Rücken und macht Babygeräusche.
„Hör auf damit. Du bist kein Baby. Und ich bin auch kein Baby.“
Karo Weber zieht sich um. Luca will spielen.
„Hör, bitte auf damit. Kannst du nicht etwas anderes machen? Etwas spielen?“, ruft Weber. Luca rennt ins Kinderzimmer, schnappt sich ein Comicheft mit Robotern, ruck, zuck hat er es durchgeblättert. Er greift nach seinem Plastikgewehr, lädt es und schießt orange Bälle durch den Raum. Dann die Autos, brumm, brumm fahren sie über den Teppich, ein Propeller surrt in die Höhe. Das aufgeräumte Zimmer versinkt im Chaos.
Sie taucht nie ab
Karo Weber trägt jetzt einen Jeansminirock, Stulpen und Chucks, ein T-Shirt mit einem Peacezeichen. Sie wirft einen Blick ins Kinderzimmer, und schüttelt den Kopf: „Das waren keine fünf Minuten.“ Aber für Aufräumen bleibt keine Zeit. Um 7.15 Uhr müssen beide das Haus verlassen. Luca versucht sich im Flur die Jacke zuzumachen. „Dieser blöde Reißverschluss“, sagt er und zerrt daran. Karo Weber hilft ihm, sagt „ach, Männer“ und drückt ihm eine Sonnenbrille in die Hand.
„Komm Hase, wir fahren der Sonne entgegen“, sagt sie und schließt die Wohnungstür.
Bevor es los zur Kita geht, muss Luca einen Fahrradhelm aufsetzen, blau mit Rennautos, er steigt aufs gelbe Fahrrad und düst los. Weber schwingt sich auch aufs Rad und überholt ihn. Routine. Im Fahren gibt sie Anweisungen: „Komm, die Ampel kriegen wir noch.“ „Nein, halt, hier stehen bleiben.“
Meist sieht Luca seine Mutter von hinten, wie ihre langen Haare über die Jacke wehen. Manchmal tritt er in die Pedale, überholt sie kurz. Aber mit der Geschwindigkeit von Karo Weber mitzuhalten, ist nicht leicht. Kaum bei der Kita angekommen, geht sie mit schnellen Schritten zur Glastür, an der steht: 6 Fälle Windpocken 1 Fall Influenza B. Dann eilt sie den langen Gang entlang, während Luca hinterherschlurft und die rechte Hand über die Wände zieht. Karo Weber dreht sich um: „Komm jetzt.“
In der Umkleide plaudert Karo Weber nebenbei mit einem Vater, Hausschuhe an, Küsschen Hase, viel Spaß und kaum ist Luca verschwunden, schwingt sich Karo Weber wieder aufs Rad, zur Schule, sie überfährt mindestens drei rote Ampeln. Sie macht eine Umschulung zur Kauffrau für Büromanagement. Mit ihrem Bachelor in Interkulturellen Europa- und Amerikastudien fand sie keinen Job. Heute ist der letzte Tag vor den Prüfungen. Sie besprechen Übungen, gleichen Ergebnisse ab. Karo Weber dreht sich zu ihren Mitschülern um, sitzt kaum still, scherzt. Sie taucht nie ab. Sie spielt an ihrem Computer Solitär und ruft dabei Lösungen in den Raum.
Überhöhtes Bild
Frauen können in Deutschland heute selbst bestimmen, ob, wann und wie sie Mutter werden wollen. Sie haben sich auch das Recht erkämpft, ein Kind nicht zu wollen. Am 6. Juni 1971 titelte das Magazin Stern „Wir haben abgetrieben“. 374 Frauen bekannten sich öffentlich zu ihrer Abtreibung, damals war das noch illegal. Heute haben Frauen in Deutschland die Kontrolle über ihren Körper. Eigentlich.
Das Bild der guten Mutter ist in Deutschland besonders überhöht. Auch weil die Nationalsozialisten die Idee von der Frau als Gebärende und Kinderkümmerin mit ihrem Mutterkult noch einmal richtig groß machten und diese Vorstellung in der Nachkriegsrepublik lange überlebte. Bis heute müssen sich Frauen erklären, wenn sie keine Kinder haben wollen.
Oder schlimmer noch, wenn sie bereuen, welche bekommen zu haben. Am vergangenen Mittwoch veröffentlichte das amerikanische Netzmagazin Slate wieder eine Geschichte darüber, die Autorin fordert: „Germany, Set Free the Rabenmutter!“. Und es war Deutschland, wo eine Studie über bereuende Mütter besonders großen Aufruhr auslöste.
Darf man Kinder bereuen?
23 Frauen hat die israelische Soziologin Orna Donath für ihre Doktorarbeit interviewt. Diese Frauen, egal ob 26 oder 73 Jahre alt, ob Arbeiterklasse oder Mittelschicht, ob verheiratet oder getrennt, beantworteten alle eine Frage gleich: „Wenn Sie in der Zeit zurückgehen könnten, mit den Erfahrungen die Sie heute haben, wären Sie dann Mutter geworden?“
Die Antwort: Nein.
„Wir können so vieles bereuen, sagt Orna Donath bei der Vorstellung ihres Buches „Wenn Mütter bereuen“ im März in Berlin. „Einen Job. Eine Schönheits-OP. Eine Ehe. Ein Tattoo. Warum nicht auch die Mutterschaft?“
Nachdem die Studie veröffentlicht war, folgte in Deutschland eine emotionale Debatte. Inklusive neuen Büchern wie „Die Mutterglück-Lüge“, „Die falsche Wahl“ und „Wenn Mutter sein nicht glücklich macht“. Unter dem Hashtag #regrettingmotherhood stritten sich in den Foren des Internets Frauen und Männer, die sich solidarisierten mit solchen, die den bereuenden Müttern eine Entwertung der Mutterschaft und Gefühlskälte vorwarfen.
Könnte nicht beides zugleich existieren? Dass Frauen bereuen, Mutter geworden zu sein, und ihr Kind trotzdem lieben?
„Ich liebe mein Kind, aber ich habe mich selbst geopfert“, sagt Karo Weber auf ihrem Balkon. „Ich bin das übrig gebliebene Elternteil, eingeschränkt in meinen Handlungsoptionen, auch in der Jobwahl, selbst meinem Bedürfnis, mit jemanden persönlich zu sprechen, kann ich nicht immer nachkommen. Ja, klar, ich kann telefonieren, aber das ist nicht das Gleiche.“
Weber bereut nicht, dass es Luca gibt. Aber sie würde gern anders leben. Sie sagt: „Womit ich nach wie vor nicht klarkomme, ist, dass ich meinen Impulsen nicht nachkommen kann. Dass dieses Zwanglose, Unkomplizierte verloren gegangen ist.“
Sie hat gern getrunken und gefeiert. Aber es gehe ihr nicht darum, jede Woche in einer Bar abzuhängen. Ihr macht das Gehetzte und Pausenlose zu schaffen: Kind anziehen, Kita, Schule, abwaschen, saugen, ihre Hausaufgaben machen, Spielplatz, zum fünften und sechsten Mal ermahnen, nein, das darfst du nicht. Das dauernde Warten auf Luca, wenn sie viel zu tun hat. „Ich mache das alles allein“, sagt Karo Weber. „Ich fühle mich manchmal allein.“
Dass es nicht nur ihr so geht, weiß sie. Wissen schließlich alle. Nahezu jede dritte Ehe wird geschieden, Frauen verdienen weniger, arbeiten öfter in Teilzeit, übernehmen den Großteil der Erziehung und der Hausarbeit.
Seit zwei Jahren hat sie einen neuen Partner. Der überlasse die Erziehung von Luca vollständig ihr. Sie habe ihn bisher auch nicht um Hilfe gebeten. „Aber er sieht doch, wie ich lebe“, sagt Karo Weber.
Wie sähe eine Welt aus, in der sie gern Mutter wäre?
„Es gibt doch eine Idealsituation: Man hat einen Partner, der sich kümmert, einen Job, Sicherheit. Und die Mutter macht nicht alles allein. Die Großeltern, die Geschwister oder gute Freunde wirken bei der Erziehung mit.“
Wenn die Umstände besser wären, dann wären auch die Mütter glücklicher? Einige sicher. Nicht alle.
In ihrer Untersuchung befragte Orna Donath Frauen die generell lieber kein Kind geboren hätten. Als sie ihr Buch in Berlin vorstellt, sagt Donath, es sei wichtig, dass auch Frauen, die es mühsam finden, Mütter zu sein, sich äußern. Frauen wie Karo Weber. Sie alle sollen Reue ausdrücken können, Bedauern.
Wenn die Aktion gegen Abtreibung 1971 im Stern gezeigt hat, dass Frauen um die Hoheit über ihren Körper kämpfen, so demonstriert Donaths Studie vielleicht, dass Frauen jetzt um die Hoheit über ihre Gefühle kämpfen. Warum sollte jemand Frauen vorschreiben können, wie sie zu empfinden haben?
Es gibt allerdings einen entscheidenden Unterschied. Die 374 Frauen im Stern ließen sich mit Foto und Namen ablichten. Die meisten Mütter, die bereuen, ein Kind bekommen zu haben, bleiben anonym. Wie Karo Weber. Wer will schon als Rabenmutter gelten?
Die Rabenmutter
Anne Bonnie Schindler hat sich genau dieses Wort geschnappt: Rabenmutter. Das Schimpfwort für Frauen, die ihre Kinder vernachlässigen, weil die Leute einmal glaubten, Raben würden ihre Jungen zu früh aus dem Nest jagen. Schindler, 35 Jahre alt, will einen Verein gründen, der diesen Namen trägt: Raben-Mütter e. V. Ihr Herzensprojekt, wie sie es nennt, soll über die Mutterrolle und ihre Mythen aufklären. Sie sitzt mit ihrem Sohn im linksalternativen Café Kollektiv in Berlin-Neukölln und erzählt, wie sie im März 2015 einen Onlineaufruf startet und Unterstützung sucht.
Sie will Müttern wie Karo Weber helfen, Müttern wie sie selbst. Schindler bekommt mit 18 Jahren ihr erstes Kind, mit 21 das zweite. Jeweils vier Monate nach der Geburt geht sie wieder arbeiten. Mit ihrem Hauptschulabschluss jobbt sie hier und da, in Kantinen, sie geht putzen, steht am Fließband. Sie und ihr Mann arbeiten, teilen sich den Haushalt, beide kümmern sich um die Kinder. Aber die Trennung verändert die gleichberechtigte Elternschaft: Als Schindler mit 23 Jahren auszieht, sind die Kinder zweieinhalb und fünf Jahre alt.
Anne Bonnie Schindler geht. Sie sagt ganz bewusst „gehen“. „Bei dem Wort ‚verlassen‘, kriege ich Haare auf den Zähnen“, sagte sie, während sie Said einen Löffel vom Gläschen feines Bio-Früchtemus in den Mund schiebt. Said ist Schindlers drittes Kind. Aber dazu später.
Sie geht aus ihrer Heimat Bayern nach Berlin, um auf dem zweiten Bildungsweg ihr Abitur nachzuholen. Ihre beiden ersten Kinder bleiben beim Vater. Männer tun das öfter einmal, Mütter, die nach einer Trennung nicht bei den Kindern bleiben, gibt es weniger. Vielleicht treten sie auch nicht so an die Öffentlichkeit. In Schindlers Nachbarschaft rumort es: Sie sei zu jung Mutter geworden, sie sei überfordert, sie sei egoistisch. Irgendetwas, so viel ist klar, kann mit ihr nicht stimmen. Das Jugendamt fragt sie, ob sie drogenabhängig sei. Gewalttätig.
„Warum konnte ich nicht wie tausend andere Väter agieren?“, fragt sie. „Warum ist eine Frau ein krankes Miststück?“ Sie kommt ins Stocken, sucht nach Worten, fängt sich. Dann sagt sie: „Ich bereue nichts, weder dass ich Kinder bekommen habe, noch dass es so gekommen ist.“
Kein Kontakt mehr
Seit Anfang 2015 hat Schindler erneut keinen Kontakt mehr zu den beiden ersten Kindern. Manchmal schmerzt das. Ihre Entscheidung bedeute doch nicht, dass sie nicht mehr Mutter sein, ihre Verantwortung nicht wahrnehmen wolle.
Sie verlor immer wieder den Kontakt zu ihren Kindern. Sie stritt sich mit ihrem Exmann vor Gericht. Nach der Scheidung will auch ihre Mutter mit ihr nichts mehr zu tun haben.
„Mütter, die gehen, werden pathologisiert, weil wir davon ausgehen, dass Mutterschaft etwas Intuitives ist“, sagt Schindler. Fernab von gesellschaftlichen Konventionen habe sie bei der Trennung eine bewusste, rationale Entscheidung getroffen: „Was kann er? Was kann ich? Und dann bin ich einen großen Verlust eingegangen.“ Mehr will sie dazu jetzt nicht sagen.
Sie holt in Berlin ihr Abitur nach, fängt eine Ausbildung zur Erzieherin an, bricht sie ab, arbeitet als Türsteherin, eröffnet mit einer Partnerin den alternativen Sexshop „Other Nature“ in Berlin. Sie steigt wieder aus und beginnt eine Ausbildung zur Heilpraktikerin, die sie unterbricht, als sie erneut schwanger wird – mit Said.
Das dritte Kind macht sie unangreifbar
Sie freut sich, sagt sie. Über das Kind. Aber auch darüber, dass sie das mit dem Verein nun durchziehen kann. Sie sagt, sie habe diesen Schritt nur gehen können, weil sie wieder schwanger war.
„Ich wusste, wenn Said da ist, kann mich keiner mehr treffen“, sagt Anne Bonnie Schindler. Zweifel und Schuldgefühle seien irgendwie auch immer da gewesen: „Hat das mit einem Mangel, mit fehlender Mutterliebe zu tun?“
Schindler muss erneut Mutter werden, um den Verein Raben-Mütter gründen zu können, „bunt, alternativ und Freundinnen aller Familienmodelle“. Offen für heterosexuelle Männer, Schwule, Lesben, Queere und Transmenschen. Der Verein soll für die soziale Familie einstehen – Bindungen sollen mehr zählen als Blutsverwandtschaft. Ein Ziel von Raben-Mütter e. V. ist, dass mehr als zwei Personen in die Geburtsurkunde eines Kindes eingetragen werden können.
Jasmin Kalarickal, 31, ist Chefin vom Dienst im Berlin-Teil der taz. Sie hat zwei Kinder. Als sie das erste Mal Mama gerufen wurde, fragte sie sich, ob tatsächlich sie gemeint war.
Was Familie ist und was eine Mutter, hat sich schließlich nicht zum ersten Mal verändert. Vor der industriellen Revolution arbeiteten viele Frauen selbstverständlich auf dem Feld, im Haus, im Garten, in Geschäften mit. Die Großfamilie produzierte, was gebraucht wurde. Geschlechterteilung gab es. Aber zwischen unbezahlter Hausarbeit und entlohnter Erwerbsarbeit außer Haus zu unterscheiden, etablierte sich erst mit dem Auslagern der Produktion in Fabriken und andere Betriebe. Sich um Kinder zu kümmern, wurde zunehmend Aufgabe der leiblichen Mutter.
Anne Bonnie Schindler scheitert. Raben-Mütter e. V. scheitert. Am 7. März 2016, einen Tag vor dem Internationalen Frauentag, postete der Verein auf Facebook: „Nach langem Überlegen wird der Zusammenschluss, einen Verein für alleinstehende Mütter zu gründen, nicht weiter nachgegangen. Es haben sich trotz viel positiven Feedbacks leider nicht die nötigen Mitglieder gefunden und die gesetzten Ziele wurden nicht erreicht.“
Eine harte Zeit
Es hätten sich viele Frauen gemeldet, sagt Schindler, aber sie wollten nur in einem geschützten, nicht öffentlichen Raum sprechen. „Kaum jemand war bereit, die Probleme nach außen zu tragen.“
Anfang Juni steht sie in Leggins und buntem T-Shirt in ihrer Küche am Herd und kocht Kaffee. Sie sagt: „Die Ideen sind im Ordner.“ Auf dem linken Arm, der bis zu den Händen tätowiert ist, hält sie Said. Ein Jahr ist er jetzt alt, er kränkelt. Sie stellt eine Schale Heidelbeeren auf den Tisch. Sie scheucht den Hund hinaus, um den sie sich gerade mitkümmert. Sie hebt Said auf seinen Kinderstuhl, dann setzt sie sich selbst.
„Die letzte Zeit war hart“, sagt Schindler, steht wieder auf und testet, ob die H-Milch noch gut ist. Sie flockt. Seit drei Monaten klafft eine Lücke unter der Arbeitsplatte. Der Kühlschrank fehlt, das Geld für einen neuen auch. Das Jobcenter hat sie zu Rückzahlungen verpflichtet, also hat sie die letzten Monate von 250 Euro gelebt.
Dazu das Auf und Ab mit dem Vater des Kindes, von dem sie zwar getrennt, aber um eine gute Beziehung bemüht ist. Sie versucht wieder Kontakt zu ihrer Mutter zu bekommen. Die Frau, mit der sie den Raben-Mütter-Verein gründen wollte, möchte nicht mehr mitmachen. Schindler hat ihre Ausbildung, die sie wegen Said unterbrochen hat, wieder angefangen. Sie fehlt an vielen Tagen, Kind krank, sie krank, Tagesmutter krank.
Said nuckelt an seinem Schnuller und versucht mit einem Löffel Heidelbeeren aus der blauen Schüssel Richtung Mund zu transportieren. Die meisten kullern auf den Küchenboden. Sie küsst ihn überall auf den ganzen Bauch. Er läuft ein paar wackelige Schritte zum Hund. Laufen kann er erst seit kurzem.
Said rollt einen Ball zu seiner Mutter und lacht. Sie lacht auch und rollt ihn zurück.
Die Rolle abgeben
Seit ihre Tochter Streit mit ihrem Vater hat, hat Schindler wieder Kontakt zu ihr. Schindler weint, während sie das erzählt, schnappt sich Said und küsst ihn auf den Kopf. Sehr lange habe sie auf diesen Moment gewartet. Die Tochter habe viele weibliche Bezugspersonen in Bayern. „Doch sie braucht mich jetzt, als biologische Mutter.“
Mutter zu sein sei eine Rolle, sagt Anne Bonnie Schindler. Gerade für sie, „denn eigentlich bin ja ein zorniger Mensch.“ Das müsse sie kontrollieren. „Aber das kann ich“, sagt sie, „ich war ja auch Türsteherin und Geschäftsfrau.“ Wenn Mutter eine Rolle ist, müsste es dann nicht auch möglich sein, diese Rolle abzulegen? Die Feministin Simone de Beauvoir hat in ihrem Klassiker „Das andere Geschlecht“ 1951 geschrieben: „Man wird nicht als Frau geboren, man wird es.“ Wird eine Frau mit der Geburt eines Kindes nicht automatisch zur Mutter?
Karo Weber schenkt sich an dem Freitagabend im Mai auf ihrem Balkon in Leipzig ein Glas Rotwein ein. In ein paar Tagen wird sie ihre Abschlussprüfung schreiben. Sie sagt: „Heute war es ruhig.“ Sie hat den Kleinen fertig gemacht, zur Kita gebracht, war in der Schule, einkaufen, hat den Kühlschrank abgetaut und sauber gemacht. Gleich nach dem Abendessen muss Luca ins Bett. „Ach, wären wir einfach zum See gefahren“, sagt Karo Weber. „Oder ins Café.“ Normalerweise geht die Berufsschule länger als heute, ihre Eltern können oft nicht auf Luca aufpassen.
Dann muss sie zur Kita rennen, ihn am Dienstag zur Logopädie bringen, zum Schwimmunterricht am Mittwoch. Heute schiebt sie Tiefkühlpizza in den Ofen und tröstet Luca, als er erzählt, dass er seinen Propeller verloren hat. Sie macht ihm den Fernseher an. Es läuft „Heidi“ – die Geschichte über ein Waisenkind, das nach dem Tod der Eltern zum mürrischen Großvater in die Berge ziehen muss.
Karo Weber hat seit der Geburt ihres Kindes zwei Kleidergrößen abgenommen.
Wenn es gerade gut läuft mit ihrem Freund, in den schönen Momenten, da denkt sie über ein neues Kind nach. „Irgendwie ist es doch immer noch so“, sagt sie und trinkt einen Schluck Rotwein , „ein Kind ist doch die Krönung einer Liebe.“
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Historiker Traverso über den 7. Oktober
„Ich bin von Deutschland sehr enttäuscht“
Interner Zwist bei Springer
Musk spaltet die „Welt“
Deutsche Konjunkturflaute
Schwarze Nullkommanull
Nach dem Anschlag von Magdeburg
Wenn Warnungen verhallen
Schäden durch Böller
Versicherer rechnen mit 1.000 Pkw-Bränden zum Jahreswechsel
Ende der scheinheiligen Zeit
Hilfe, es weihnachtete zu sehr