Mythos Mafia: "Es herrschen Dritte-Welt-Zustände"
In Neapel identifizieren sich verelendete Jugendliche mit Mafia-Filmen - und werden zu realen Mördern. Matteo Garrone über seinen Film "Gomorrha"
taz: Herr Garrone, haben Sie einen Lieblings-Mafiafilm?
MATTEO GARRONE wurde 1968 in Rom geboren. 1986 absolvierte er sein Studium an der dortigen Kunsthochschule und widmete sich mehrere Jahre fast ausschließlich der Malerei. Erste Erfahrung im Film sammelte er als Kameramann. Mit seinem Regiedebüt, dem Kurzfilm "Silhouette" (1996), gewann er den von Nanni Moretti ins Leben gerufenen Sacher Award. Erfolgreich liefen seine nächsten Filme auf kleineren Festivals und in den Nebensektionen von Cannes und Venedig. Mit seinem vierten Spielfilm "Primo Amore" war Garrone 2005 im Wettbewerb der Berlinale vertreten und gewann den Silbernen Bären für den besten Soundtrack. In diesem Jahr folgte in Cannes der Große Preis der Jury für den Spielfilm "Gomorrha", der auf Roberto Savianos Bestseller über die neapolitanische Camorra basiert.
Matteo Garrone: Natürlich mag ich Francis Ford Coppolas "Pate"-Trilogie, Howard Hawks "Scarface" oder die Mafiafilme von Martin Scorsese. Auch die Jugendlichen in Scampia bei Neapel, wo "Gomorrha" spielt, kennen diese Filme in- und auswendig. Die Paten auf der Leinwand sind ihre Vorbilder und ihre Helden. Ein Mafiaboss wollte sich sogar Al Pacinos Protzvilla aus Brian de Palmas "Scarface" nachbauen lassen. Man sieht die stillgelegte Baustelle mit der überdimensionalen Badewanne in einer Szene meines Films.
Wie erklären Sie sich diese Macht des Kinos? Die Jugendlichen sehen doch tagtäglich vor der Haustür, was die Mafia anrichtet.
In den Gegenden rund um Neapel gerät man sehr leicht in das Räderwerk der Mafia, das Biografien schnell zerstören kann. In der Wirklichkeit gibt es eben nicht die schützende Hand des Dons und den vom Kino mythisierten Moralkodex der Mafia. Es geht ums knallharte Geschäft. Ich wollte gerade die Diskrepanz zwischen den Vorstellungen, die die Jugendlichen von sich haben, und ihrer Realität aufzeigen. Man hat das Gefühl, dass das Kino da eine Art Schutzraum ist. Aber nicht nur das Kino, auch die Hiphopkultur bietet solche Identifikationsmöglichkeiten. Das ist ein weltweites Phänomen. Ob nun in Neapel oder in den Favelas rund um Rio de Janeiro. Die coolen Gesten, die Sprache, die die Jugendlichen imitieren, lassen die schmutzige Wirklichkeit, in der sie leben, in einem anderen Licht erscheinen. Nehmen Sie den 15-jährigen Totò aus meinem Film. Es macht sicher keinen Spaß, in einer dreckigen Ecke den ganzen Tag Schmiere zu stehen. Deshalb stilisiert er sich zum Helden, trägt Goldkettchen und dieses Rapper-Tankshirt.
In den Mafiafilmen wird in Saus und Braus gelebt. Totò dagegen holt sich das T-Shirt aus einem Billigladen. Bei Ihnen tragen die Bosse Shorts und Gummilatschen. Wo bleibt das Geld?
Das haben wir uns beim Drehen auch immer wieder gefragt. Wir haben an Originalschauplätzen gedreht und kaum ein Zeichen des Luxus gesehen. Die normalen Menschen und auch die Mafiabosse leben in sehr einfachen Verhältnissen. Man kennt die enormen Summen, die die Camorra jährlich mit ihren illegalen wie halblegalen Geschäften wie Müllentsorgung, Textilhandel, Prostitution oder Drogengeschäften verdient. Aber man weiß nicht, wohin es fließt. Wird es unter Matratzen gehortet oder geht es in neue Transaktionen? Gerade diese Undurchschaubarkeit macht die Camorra noch unberechenbarer. Man bekommt es tatsächlich mit einem ganz eigenen, in sich geschlossenen ökonomischen System zu tun.
Ist es ein Staat im Staat? Die Polizei tritt in Ihrem Film ja nur in Erscheinung, um die Leichen abzuholen. Entspricht das der Realität?
Der Staat und seine Apparate sind so etwas wie Zaungäste in Scampia. Um ehrlich zu sein, kam ich mir beim Drehen manchmal wie im Dschungel vor. Manchmal gehen Beamte und Kriminelle wie wilde Tiere aufeinander los, doch meistens beobachten sie einander aus der Ferne. Letztlich hat der Staat dieses Territorium aufgegeben. Natürlich ist es auch ein ständiges Nehmen und Geben. Wir alle wissen, wie korrumpierbar der italienische Staat ist.
Wie erklären Sie sich dann die Wiederwahl von Silvio Berlusconi, dem immer wieder Verwicklungen mit der Mafia nachgewiesen wurden? Gehört denn so viel Zivilcourage dazu, das Kreuzchen bei den Wahlen woanders hinzusetzen?
Ich persönlich glaube nicht mehr an eine politische Lösung von oben. In Neapel gibt es mit Rosa Russo Iervolino seit 2001 eine Bürgermeisterin aus dem Mitte-links-Bündnis LUlivo, die 2006 wiedergewählt wurde. Doch den Mangel an staatlichen Institutionen konnte sie auch noch nicht ausgleichen. Man muss bei den Bildungs- und Beschäftigungsproblemen ansetzen, sonst kommt man gegen das System der Camorra nicht an. Es mag banal klingen, doch man muss den Menschen Alternativen anbieten und wenigstens für eine rudimentäre Infrastruktur sorgen. Die Camorra wird doch immer stärker, weil rund um Neapel letztlich Dritte-Welt-Zustände herrschen.
Die Stärke Ihres Films liegt darin, dass Sie sich in diesen Alltag hineinbegeben.
Ich wollte zeigen, wie sehr die Camorra die Lebenswirklichkeit der Bewohner in Scampia bestimmt. Die Menschen dort merken teilweise gar nicht mehr, dass sie Rädchen in einem System sind. Sie können sich auch kaum noch ein Leben außerhalb dieses Systems vorstellen. Diese eingeengte Perspektive wollte ich einnehmen. Die Leute in Scampia waren überraschend offen für unser Projekt. Als wir drehten, gab es immer 50 bis 60 Menschen hinter dem Monitor, die neugierig das Geschehen verfolgten und kommentierten. So bekam ich Unterstützung von den Leuten, die in und von diesem System leben.
Sie verzichten auf Identifikationsfiguren, Ihr Film ist eher ein Teppich, in dem einzelne Handlungsstränge verknüpft sind. Warum diese Struktur?
Da wir schon so viel über Filme gesprochen haben. Als Referenz für "Gomorrha" würde ich Roberto Rossellinis Zweiter-Weltkrieg-Film "Paisà" nennen. Wie alle seine großen Werke erzählt er auch hier, ohne zu urteilen. In sechs Episoden folgt er Soldaten aus den verschiedenen Lagern. Rossellini kommentiert nicht, er stellt keine Thesen auf, er verzichtet auf moralische Urteile. Das war auch genau meine Absicht.
Für jeden Handlungsstrang, für jede Figur benutzen Sie eine andere Ästhetik. Wie sind Sie vorgegangen?
Meine Figuren sind im System der Camorra ganz unterschiedlich involviert. Der kleine Totò ist erst ganz kurz dabei, seine Unsicherheit musste in den Bildern präsent sein. Deshalb arbeite ich in seinen Szene manchmal mit einer agilen Handkamera. Marco und Ciro, die sich keiner Bande anschließen wollen, müssen ständig auf der Hut sein. Von ihrer Angst vor Verfolgung erzähle ich mit Reißschwenks. Franco hingegen ist einer der Drahtzieher der Camorra, ein Verbrecher im feinen Anzug. Mit seiner Macht dominiert er das Bild. Aber meistens habe ich mit ruhigen, fast dokumentarischen Einstellungen gearbeitet. Etwa wenn ich die Fabriken zeigen, in denen meist illegale Einwanderer aus China im Akkord nähen müssen. Der Zuschauer sollte immer die Zeit bekommen, sich auf die Wirklichkeit solcher unwirtlichen Orte einzulassen.
Der Autor des Bestsellers "Gomorrha", Roberto Saviano, der auch am Drehbuch mitarbeitete, steht seit seiner Buchveröffentlichung unter Personenschutz. Fürchten Sie die Camorra?
Nein. In meinem Film geht es schließlich nicht um die Aufdeckung von Tatsachen. Es werden keine Namen genannt, reale Personen zitiert. Aber, und das ist typisch für Italien, die Regierung in Neapel ist sauer auf mich. Und besonders das dortige Tourismusbüro. Sie finden, dass mein Film dem Vermarktungsimage von Neapel schadet. Ich muss mir Hasstiraden von Menschen anhören, die Neapel regieren. Das sind genau die Leute, die die Region in diese Situation gebracht haben. Es ist einfach ein absurdes Land. INTERVIEW: ANKE LEWEKE
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