: „Mutter würde zum Stein greifen“
Im März traf der Castor im Zwischenlager Gorleben ein. Für die Jugendlichen im Wendland ist dies immer noch ein Thema. Neue Aktionen werden jetzt schon geplant ■ Von Sabrina Zinke, Jason Krüger und Ilka Schröder
„Während der ganzen Castor- Aktionstage haben wir die Lämmer erwartet, doch nichts ist passiert“, sagt Anne, 16, und macht die Milchflasche fertig. Der Bauernhof in Grippel liegt direkt an der Transportstrecke. Hier mußte der Castor durch. „Nachdem der Castor dann im Lager verschwunden war, kamen die ersten.“ Echte Anti-Castor-Lämmer.
Das Wendland, wie es leibt und lebt, an 360 Tagen im Jahr: güllende Trecker, Bauern, reitende Castor-GegnerInnen. Hier ein X oder dort eine Parole an der Wand erinnern noch an die Chaostage im März. Auf dem ehemaligen Zeltplatz von „x-tausendmal quer“ wird wieder gesät, Protest und Ernte lassen sich vereinbaren. Wer am Tag X nicht dabei war, wird sich kaum vorstellen können, wie und wo und daß sich hier überhaupt noch vor wenigen Wochen Tausende von Menschen querstellten.
Auf die tunnelartigen Unterhöhlungen weist nur noch die neue Teerschicht auf der Straße hin. Und wer im Wald vor Gorleben ein Schlachtfeld erwartet, wird enttäuscht sein. In Splietau steht weiterhin trotzig am Ortseingang: „Besetzt“. Obwohl die Spuren von X3 langsam verblassen, bleibt der politische Inhalt. Der Protest richtete sich oft nicht nur gegen die Atomkraft im Land, sondern gegen das ganze System: „Wer bei den Castor-Demos mitgemischt hat, beginnt zu überlegen, was unter dem Deckmantel der Demokratie wirklich passiert“, sagt der 19jährige Tobias von der Dannenberger Projektwerkstatt Abraxas.
Die Stimmung in den Dörfern ist seit dem letzten Castor-Transport und seinem massiven Polizeischutz gekippt. „Noch vor kurzem hätte ich gesagt, der Großteil der Leute hier ist für den Castor“, erklärt Anne aus Grippel. „Mittlerweile bin ich mir da aber nicht mehr so sicher. Dennoch hört mensch von der Unterstützung der Proteste teilweise nur hinter vorgehaltener Hand. „Der Castor spaltet Generationen“, sagt die 16jährige. Unter den Jugendlichen ist das Meinungsbild relativ klar: „Die meisten von uns befürworten die Proteste.“
Viele Jungendliche aus dem Landkreis sind aktive Castor-Gegner: Nächstes Mal machen wir die Strecke komplett dicht, verspricht mensch in Dannenberg. Die wenigen, die dem Castor-Transport positiv gegenüberstehen, argumentieren meist so: Mein Vater arbeitet im Zwischenlager. Ob mit Motorrad oder mit dem Dreirad – alle waren dabei. Eigentlich sollten die Kids am letzten Tag X zu Hause bleiben, aber das war den zwei Dutzend Anti-Castor-Newcomern zu unpolitisch. Sie blockierten gemeinsam eine Straße auf der vermeintlichen Castor-Strecke. Durch die Präsenz der Presse wurden sie vor hartem Durchgreifen der Polizei geschützt. Auf den Versuch des Staatsschutzes, die Kiddies zur Einsicht zu bringen, reagierten sie undogmatisch. „Wiesooo?“ Nach einer Stunde des Grübelns stellten die selten dummen OrdnungshüterInnen fest, daß sich die Kids gar nicht auf der Castor-Strecke befinden.
Im Wendland wurde deutlich, daß es durchaus unterschiedliche Auffassungen über die Formen des Widerstandes gibt. „Wir fühlen uns aber mit unseren weniger gewaltfreien Aktivitäten nicht akzeptiert von den ausschließlich gewaltfreien Gruppen wie ,x-tausendmal quer‘“, kritisieren Tobias und André vom Dannenberger Jugendtreff.
Obwohl der Castor zwangsläufig ständig aktuell im Wendland ist, verschwanden die Gorleben- Transporte bereits sehr früh wieder aus den Gesprächen. „Das Thema Castor war nach ein, zwei Tagen aus den Klassenräumen verschwunden“, berichtet eine Schülerin. Dennoch ist das Wendland nicht eingeschlafen, Nachbereiten und Resümieren stehen noch immer auf der Tagesordnung vieler Jugendlicher. Mit der wachsenden Anzahl der Protestierenden steigt auch die Gewaltbereitschaft. Letztlich habe aber die Polizei mit der Mißachtung der Verhältnismäßigkeit der Mittel eine Radikalisierung bewirkt. „Meine Mutter würde das nächste Mal zum Stein greifen, wenn die OrdnungshüterInnen wieder ähnlich vorgingen wie beim letzten Mal.“ Mit diesem Satz widerlegt eine 15jährige Realschülerin die These, daß Jugendliche grundsätzlich gewaltbereiter als die älteren Generationen sind.
Das Auftreten der sogenannten Autonomen wird von den Dannenberger Jugendlichen unterschiedlich beurteilt. Einige haben Probleme mit ihrer Anwesenheit, würden ihnen aber im Notfall nicht den Zugang zum Fluchtweg versperren. Andere meinen, daß „Gorleben ohne SteineschmeißerInnen“ nicht so effektiv wäre. Nicht wenige WendländerInnen denken und handeln inzwischen allerdings selber radikaler. Während sie '95 Straßenuntergrabungen noch ablehnten, buddelten viele diesmal mit. Konsens besteht darüber, daß Gewalt gegen Menschen immer abzulehnen sei. Ansonsten solle sich jeder mit seinen Ideen und seiner Kreativität einbringen, meint Tobias. Einige im Landkreis glauben übrigens gar nicht an die Existenz wirklicher Autonomer: „50 Prozent von denen waren Spitzel. Alles Polizei in Zivil!“ sagt ein Mädchen aus Grippel.
Wer jetzt ins Wendland fährt, wird sich über die Normalität dieses niedersächsischen Landkreises wundern. An den Bäumen sucht DJ Nuke über Plakate seine jugendliche Zielgruppe. Daneben hängen Zettel, die zu diversen Vor- und Nachbereitungstreffen des Castor-Widerstands einladen.
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