Musik zu einem LeGuin-SciFi-Roman: Grenzenlosigkeit beim Komponieren
Todd Barton hat mit Ursula K. Le Guin den SciFi-Roman „Always Coming Home“ vertont: „Music and Poetry of the Kesh“ wurde erneut veröffentlicht.
Das war immer der Wunsch von Hippie-Musikern der 1970er Jahre: eine Musik, die sich nicht auf die Person des Musizierenden bezieht noch auf die Welt da draußen mit ihrer Politik, sondern auf eine fiktive, zuweilen utopische, immer aber fantastische Welt, die man nicht mehr beschreiben muss, erklären, sondern die schon fertig ist – von einem anderen geschrieben, kartografiert und zum Ausmalen und Projizieren freigegeben.
Spätestens seit Marc Bolan und Steve Peregrin Took sich vor 50 Jahren auf der Coverrückseite des zweiten Tyrannosaurus-Rex-Albums „Unicorn“ mit einer Tolkien-Ausgabe präsentierten, ist diese Sehnsucht aktenkundig. Ihr Einzugsgebiet ist enorm. Von dem zarten globalfolkloristischen Poesiegarten der Incredible String Band bis zum topografischen Virtuosengewühle der mittleren Yes erstreckte sich dieses Begehren, nicht eine Welt zu erschaffen und zu definieren, sondern sich in einer bereits bestehenden musikalisch zu ergehen. Todd Barton hat’s geschafft.
Barton ist kein sehr bekannter, aber auch nicht ganz unbeschriebener Komponist im Forschungsfeld zwischen neuer Musik, freiem Jazz und Ethnomusikologie. In den 1980er Jahren hatte er das Glück, dass die renommierte Autorin von Romanen, die einfach der Fantasy oder der Science Fiction zuzuschlagen sie sich verbeten hätte, Ursula K. Le Guin, auf die Idee kam, Barton, mit dem sie schon einige Radioprojekte gemeinsam unternommen hatte, die Musik für einen ihrer Romane entwickeln zu lassen.
Vorher hatte sie schon mal ein Libretto für den ehemaligen Kevin-Ayers- und Mike-Oldfield-Sideman und späteren Komponisten David Bedford entworfen. Doch jetzt sollte es so etwas wie Field Recordings einer indigenen Bevölkerung der Zukunft geben, die sie zugleich auf Traditionen aufgebaut wissen wollte, die es tatsächlich in Oregon und Nordkalifornien gegeben hatte.
Einspruch gegen Rassismus
Der Begriff des Kulturrelativismus hatte nicht immer dieselbe und weitgehend pejorative Bedeutung, die er heute hat. Heute meint das Wort eine Weltanschauung, die in China die Menschenrechte und in islamischen Ländern die Frauenrechte aussetzen will, „weil die eine ganz andere Kultur haben“ oder aber weil deren Einforderung „eurozentrisch“ wäre.
ls die kulturrelativistisch genannte Richtung der Ethnologie unter dem deutschstämmigen jüdischen Forscher und Theoretiker Franz Boas im ersten Viertel des 20. Jahrhunderts in den USA entstand und enorm an Einfluss gewann, machte sie ihre Entdeckungen im Zeichen eines ersten massiven Einspruchs gegen den bis dahin weitgehend unbezweifelten sogenannten wissenschaftlichen Rassismus. Die Behauptung von der Relativität war mit der Behauptung einer Vorgängigkeit des Kulturellen verbunden und einer Zurückweisung aller biologischen Bestimmungen.
Diese Kombination konnte sich lange halten, bis zur Entstehung linker, antiimperialistischer Projekte zur Unterstützung „bedrohter Völker“; es ließ sich freilich nicht verhindern, dass auch die (radikale) Rechte im Laufe der letzten 30 Jahre sich das Konzept unter dem Namen „Ethnopluralismus“ als eine Art Neorassismus aneignen würde – nun sollte allerdings die vermeintlich fundamentale Differenz der Kulturen als Grund für strikte Segregation herhalten.
Neben Margaret Mead, Ruth Benedict, Zora Neale Hurston, Gilberto Freyre oder Edward Sapir war Alfred Kroeber einer der wichtigsten Schüler von Boas, der neben Benedict wohl auch institutionell eine der prägendsten Figuren der US-Ethnologie/Anthropologie war; seinen Ruhm und Einfluss musste Kroeber zeitweilig mit seiner Frau Theodora teilen.
Beide hatten über Ishi, den – wie es damals hieß – letzten Überlebenden der Yahi, gearbeitet, Theodora aber auch populäre Jugendbücher, die mehrfach verfilmt wurden, über den „Mann, der aus der Steinzeit kam“, geschrieben, wie es in der deutschen Ausgabe hieß. Die Kroebers hatten mehrere Kinder, darunter eine Tochter. Um Wolf Wondratschek zu paraphrasieren: Ein Anthropologe zeugt mit einer Anthropologin ein Kind, das … nun nicht direkt Anthropologin werden will, aber so etwas Ähnliches.
Tragik und Komik
Ursula Kroeber Le Guin ist im Januar 2018 gestorben und hat wohl eines der üppigsten Werke zwischen den von ihr abgelehnten Genre-Kategorien Science-Fiction und Fantasy hinterlassen. Viele ihrer Romane lassen sich zu Zyklen (Der „Hainish“-Zyklus, der „Erdsee“-Zyklus) zusammenfassen, die in bestimmten Welten spielen, und ohne sie auf die Summe ihrer Eltern reduzieren zu wollen, ist doch eine kulturrelativistische Anthropologie durchaus inspirierend für sie – womit sie ja nicht die Einzige ist: der Anreiz, sich Kulturen vorzustellen, die ganz anders sind, ist ja der Antrieb vieler (kolonialer) Erzählungen, nicht nur der Science-Fiction. Wie und dass diese unüberwindlichen Distanzen dann doch überbrückt werden können, ein trefflicher Stoff für Tragik und Komik.
Im vorliegenden Fall geht es in dem Roman „Always Coming Home“ von 1985 um verschiedene fiktive (indigene) Völker, die auf einer wenn nicht postapokalyptisch, so doch von Klimawandel und anderen selbst verschuldeten Dramen ziemlich gezausten Erde im Nordwesten der USA leben; dort, wo Le Guin auch viele Jahre ihres Lebens verbracht hat und wo sie gestorben ist.
Todd Barton hat die Musik zum Buch schon bei dessen Erscheinen entwickelt, sie war vorübergehend auf Tape mit dem Buch in einer Box erhältlich, jetzt gibt es eine erweiterte Vinylfassung, und das Spannende ist sicher das Moment der Grenze und der Grenzenlosigkeit beim Komponieren und Selektieren des Materials. Der Roman gibt Regeln und Potenziale des Volkes der Kesh an, der Komponist kann sich entweder auf Szenen im Roman beziehen, er kann aber auch extrapolieren.
Kleine Gemeinschaften auf dem Land
Es gibt zwei Völker in diesem meines Wissens nach nicht ins Deutsche übersetzten Buch, die Dayao, die materialistisch und militaristisch in Städten leben und hierarchisch organisiert sind, und die friedliebenden Kesh, die anarchistisch auf dem Land in kleinen Gemeinschaften leben und die übliche urbane Ablehnung der spirituell-übersinnlichen Dimension des Lebens absurd finden. Klare Sache, das sind Gut und Böse im Gefüge einer kalifornischen Hippie-Weltsicht der 1970er.
Doch wird es im zweiten Teil, der geschrieben wie ein ethnografischer Text zu einem Teil auf den Zeugnissen einer Kesh-Frau namens „Little Bear Woman“ (das ist englisch für Ursula) beruht, dann doch deutlicher. Das betrifft dann das Eingemachte musikalischer Formate: die Formen der Notation, die die Kesh verwenden, ihre grafisch sichtbar gemachte, fließende und relative Grenze zwischen Fakt und Mythos, die Rolle der Ziffern 4 und 5 und der Spirale in ihrer Weltsicht und ihre Idee von Zeit – reichhaltige Beigaben zur Vinylversion verdeutlichen dies.
Solche Vorgaben lassen sich dann – neben Originalszenen und -texten des Buchs – gut nutzbar machen für Barton. Sich eine Musik ausdenken, nach den Vorgaben einiger Parameter einer anderen, fiktiven Zivilisation: Je mehr er sich von einer leider auch manchmal auftauchenden „tribalen“ „Indianer“-Stimmung wegbewegt in Richtung Abstraktion – umso schöner. Die unwirkliche Slowness langsam vor sich hin glühender Synthesizerflächen kommt ganz ohne Meditations-Imperativ aus, bleibt bei sich und überlässt es den Hörer_innen, sich einen Reim zu machen. Gedichte in der erfundenen Kesh-Sprache, tribalisierende Ornamente und einige auf sehr angenehme Weise referenzimmune Alienismen vervollständigen ein spätkalifornisch-anarchistisches Kunstwerk, das nicht nur von erfundenen Welten spricht, sondern selbst längst wie ein archäologisches Fundstück wirkt.
„Children of the Kesh“ (Freedom to Spend/Cargo)
Zeugnis einer Herrschaftskritik mit Spiritualität zusammendenkenden Szene, deren Resilienz gegen den eigenen Anachronismus sich heute im Überleben durch ihre Aktualisierung etwa bei Donna Haraway und ihren Schüler_innen zeigt. Das erschließt sich zu einem gewissen Grade auch demjenigen, dem anonyme Großstädte, schon wegen der Abwesenheit der „natürlichen“ Hierarchien jeder kleinen Gemeinschaft, immer lieber sein werden als die magischen Dörfer der Kesh.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Internationaler Strafgerichtshof
Ein Haftbefehl und seine Folgen
Umgang mit der AfD
Sollen wir AfD-Stimmen im Blatt wiedergeben?
Krieg in der Ukraine
Geschenk mit Eskalation
Krieg in der Ukraine
Kein Frieden mit Putin
Haftbefehl gegen Benjamin Netanjahu
Er wird nicht mehr kommen
Utøya-Attentäter vor Gericht
Breivik beantragt Entlassung