Musical-Verfilmung „Wicked“: Gesungene Rassismuskritik mit Bambiaugen
Dichotomische Wahrheiten und meisterlich erfüllte Rollen. Die Musical-Verfilmung „Wicked“ stellt zu reichlich Tanz und Gesang aktuelle Fragen.
Gut oder böse. Dazwischen gibt es nichts. Von jeher bestimmt diese vereinfachende Dichotomie unsere Narrative – erst recht, wenn es um Erzählungen für Kinder geht. Bei den Brüdern Grimm, die im 19. Jahrhundert die bis heute wichtigste Sammlung von Volksmärchen vorlegten, sieht man den „Guten“ ihre weiße Weste an. Sie sind schön, „rein“ und klug, heißen Schneewittchen, Rotkäppchen oder Rapunzel, sind Prinzessinnen oder Bauerntöchter, während es sich bei den „Bösen“ um bärtige Giftzwerge, Stiefmütter – oder hässliche, alte Hexen handelt.
Im von diesen weiblichen Figuren und deren Pubertätsgeschichten dominierten klassischen Märchen ist die Hexe ein „Supervillain“. Die erste Grimm’sche Niederschrift von „Hänsel und Gretel“ stammt aus dem Jahr 1812 – 30 Jahre nach einer der letzten europäischen Hinrichtungen einer Frau als Hexe: Im Jahr 1782 wurde einer Magd in der Schweiz der Prozess gemacht. Die Anklage – die Magd hatte angeblich dafür gesorgt, dass Kinder in ihrer Obhut Stecknadeln spucken – presste die sogenannte Teufelsbuhlschaft aus ihr heraus, in den misogynen Hexenverfolgungen der Frühen Neuzeit zumeist der Grund für den Abfall einer Frau vom „rechten Weg“. Frauen waren eben leicht beeinflussbare und unbedarfte Wesen, mit von Natur aus lüsternen Leibern.
Dass eine Hexe „gut“ (und damit auch „hübsch“) sein könne, war damals nicht vorgesehen. Dennoch erfand der mit einer Suffragette verheiratete US-amerikanische Schriftsteller L. Frank Baum im Jahr 1900 und in Kenntnis der Grimm’schen Märchen eine Geschichte, in der es „böse“ und „gute“ Hexen gab: Mit „The Wonderful Wizard of Oz“ (auf Deutsch: „Der Zauberer von Oz“) schuf er ein amerikanisches Märchen, das die Dürrezeiten aus seiner Kindheit ebenso spiegelte, wie es klassische Märchenmotive aufgriff. Die Geschichte von Dorothy, die in einem magischen Land die bis heute viel benutzte Held:innen-Gruppenreise unternimmt, bei der jedes Mitglied der Gruppe zum Gelingen der „Mission“ beitragen muss, wurde 1939 in dem bis dahin teuersten und buntesten Fantasyfilm des Hollywoodkinos adaptiert.
Gute Hexe, böse Hexe
In diesem Film tauchen zwei Hexen auf: Die weiße Glinda, gespielt von Billie Burke, ist die „Gute Hexe des Nordens“ und Dorothys Beschützern. Sie reist standesgemäß in einer Zauberkugel statt auf dem Besen, trägt eine rosa glitzernde Robe und eine Krone und hat die blonden Haare zu prachtvollen Wellen gekreppt. Sogar ihr Zauberstab schmückt ein Sternchen. Der von Margaret Hamilton gespielten „Bösen Hexe des Westens“ dagegen, in der Original-Alliteration die „Wicked Witch of the West“, sieht man ihre „Wickedness“ an: Sie hat grüne Haut, ist älter, bucklig und hager mit prominenter Hakennase, trägt schwarze Kleidung und Hexenhut, reitet auf einem Besen und hat eine fiese Lache. Als Dorothy und Glinda sich das erste Mal treffen, verleiht Dorothy ihrem vom traditionellen Märchenwissen geprägten Erstaunen Ausdruck: „Ich dachte, Hexen sind alt und hässlich …„Glinda erklärt daraufhin die einfache, ebenfalls dichotomische Wahrheit: „Nur böse Hexen sind hässlich!“
Aber es gibt eben doch einiges zwischen „gut“ und „böse“, zwischen den subjektiven Urteilen „schön“ und „hässlich“. „Wicked“, die neue Filmadaption des gleichnamigen Musicals, das wiederum auf einem 1995 erschienene Buch des Schriftstellers Gregory Maguire beruhte, untersucht genau dieses Spannungsfeld. Als Prequel zu Dorothys Oz-Abenteuer stellt es die Figuren in den Vordergrund, die ihr Schicksal später bestimmen werden: die Hexen.
Inszeniert vom Regisseur Jon M. Chu, konzentriert sich die Geschichte um Glinda, damals noch „Galinda“ (Ariana Grande) und der von Maguire „Elphaba“ genannten West-Hexe (Cynthia Erivo) auf die Vergangenheit der Magierinnen. Denn Galinda und Elphaba kennen sich aus der Schule, waren gar Freundinnen.
Der Erzählrahmen beginnt in „Wicked“ auf einem zentralen Platz im Munchkinland, wo Galinda sich bemüßigt fühlt, den neugierigen Munchkins von früher zu erzählen. Einst lernten sich die blonde, eitle und beliebte Galinda und die von ihren Eltern aufgrund ihrer grünen Hautfarbe verachtete, aus „prekärer“ Oz-Umgebung stammende Außenseiterin Elphaba nämlich in der „Shiz-Universität“ kennen, einer Art Oz-Hogwarts. Hier trägt man fröhliche Farben, verehrt highschoolmäßig die „coolen“ Kids – und erschreckt sich kollektiv über die schwarz gekleidete neue Mitschülerin mit ihrer missmutig-grünen Miene, die eher zufällig einen Platz am Prestige-Institut ergattert – jemand bemerkt ihre Zauberkräfte. Dass Elphaba und Galinda sich ein Zimmer teilen müssen, wird der Hintergrund vieler gelungener Gags, in denen Galindas rosa Überseekoffer und ihr überbordendes Selbstbewusstsein eine große Rolle spielen: Allein, wie Grande als Galinda wimpernklimpernd die glänzenden Haare im „hairflip“ zurückwirft, ist großartig.
Natürlich nähern sich die beiden ungleichen Eleven dennoch langsam, sehr langsam an – und das trotz des Auftauchens eines attraktiven, zunächst oberflächlich scheinenden Love Interest, des Prinzen Fiyero (Jonathan Bailey), der seine Ignoranz gegenüber den Ungerechtigkeiten der Welt bei seinem Entree-Song mit dem hübschen Reim „Life’s more painless / for the brainless“ ausdrückt, und sich auch sonst um jede Ambivalenz herumlächelt. Nach verschiedenen Animositäten, Annäherungen und Elphabas Entdeckung, dass die sprechenden, weisen, teils als Dozenten eingesetzten Tiere von Oz anscheinend durch ein Komplott zu stummen Untertanen gemacht werden sollen, reisen Elphaba und Galinda schließlich gemeinsam nach „Emerald City“ (bekannt aus dem 1939er Film), um beim Zauberer von Oz (Jeff Goldblum) vorzusprechen.
Es passiert noch viel mehr in diesem ersten von zwei Filmteilen, der folgerichtig ein offenes Ende anbietet. Das opulente „world-building“ der Produktion, die der Technik der 30er Jahre natürlich überlegen ist, funktioniert hervorragend, die von Stephen Schwartz geschriebenen Musical-Songs sind lustig und angemessen überkandidelt. Und die Darsteller:innen, allen voran der Popstar Grande mit den Bambiaugen und die im wahren Leben passenderweise tatsächlich recht ernst wirkende britische Sängerin und Schauspielerin Erivo, die während der Werbekampagne mit einem entrüsteten Kommentar zu einem angeblich unverschämten Plakatmotiv einen Shitstorm auslöste, erfüllen ihre Rollen meisterlich.
Die enthaltenen Konnotationen zum Hautfarbenrassismus, die Überwindung von Diskriminierung durch solidarische Frauenfreundschaft und die wichtige Grunderkenntnis, dass – anders als es Märchen erzählen – niemand „böse“ geboren wird, sondern dass verletzte, traumatisierte, schlecht behandelte Menschen „böse“ Dinge tun, „hurt people, hurt people“, macht den Film trotz fett arrangierten Dauergesinges und der Farben-, Tanz-und Kostümüberdosis zu einem höchst unterhaltsamen Plädoyer für Toleranz, Differenzierung und Humanismus.
Zudem ist er rein motivisch erschreckend aktuell. Es kann kein Zufall sein, dass die Figur der Hexe für zwei der momentan wichtigsten politischen Diskurse steht: den menschengemachten Klimawandel (die Hexe ist schließlich die originäre Wetterzauberin) und das Recht von Frauen auf den eigenen Körper (die Hexe als Hebamme und Heilerin). Für wen der große Scharlatan und Lügner, der Wizard of Oz selbst, stehen könnte, erklärt dann hoffentlich der zweite Teil.
„Wicked“. Regie: John M. Chu. Mit Cynthia Erivo, Ariana Grande-Butera u. a. USA 2024, 160 Min. (Teil 1)
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