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Endlich ein internationales Unternehmen, dessen Geburtstag uns Anlass zur uneingeschränkten Freude gibt. Die Menschenrechtsorganisation amnesty international, gegründet durch einen Artikel im „Daily Telegraph“ über „Vergessene Gefangene“, wird übermorgen vierzig Jahre alt

von CHRISTIAN SEMLER

Die Attraktivität von amnesty international, gerade unter jungen Leuten, erweist sich in allen Umfragen neu. Die Organisation, kurz: ai, steht in allen Beliebtheitsskalen ganz vorn. Ihre Wahl illustriert die These, dass zwar Parteien und institutionalisierte Politik bei uns in die Krise geraten sind. Nicht aber ein politisches Engagement, das moralisch motiviert ist, in dessen Zentrum das Schicksal Einzelner steht und dessen Aktionskreis die ganze Welt umfasst. Freilich klafft eine Lücke zwischen der Wertschätzung und dem praktischen Entschluss, dort auch mitzumachen.

Auch die deutsche ai-Sektion hatte in der zweiten Hälfte der Neunzigerjahre, was die Mitgliedsentwicklung anbetrifft, eine Durststrecke zu überwinden. Jetzt aber kommen monatlich fünfhundert Neue als Aktivisten und Förderer hinzu.

ai betreibt keine aggressive Mitgliederwerbung. Aber sie „holt die Leute ab“, eröffnet ihnen unterschiedliche, ihrer Zeit wie ihren Bedürfnissen angepasste Möglichkeiten des Engagements. Wem nach öffentlicher Action zumute ist, der kann sich an der nunmehr dritten Antifolterkampagne beteiligen oder an der Organisation von Veranstaltungen. Zum Beispiel an der jetzt in Berlin laufenden Vorlesungsreihe gegen den Rüstungsexport in Länder mit übler Menschenrechtsbilanz. Oder er/sie kann sich – immer noch das Kernstück der ai-Arbeit – um die Freilassung gewaltloser politischer Gefangener kümmern, sie und ihre Familien materiell wie juristisch unterstützen, die Verantwortlichen mit einer Briefkampagne überziehen. Oder es gilt, sich tief in die Verhältnisse eines Landes zu stürzen und Mitglied einer Ländergruppe (internes Kürzel: Ko-Gruppe; für Koordinationsgruppe) zu werden.

Es gibt keinen alles dominierenden inneren Zirkel, auch wenn der Kenntnisüberhang der Altgedienten, zumal der Achtundsechziger, zuweilen auf Neuankömmlinge abschreckend wirkt. Bei den AktivistInnen sehen wir hauptsächlich die intellektuellen Mittelschichten am Werk, vor allem die LehrerInnen, dazu viele Studierende. Aber auch Angehörige sozialer Berufe wie die jetzige Generalsekretärin der deutschen Sektion, Barbara Lochbihler, die über Erfahrungen als Sozialarbeiterin und Vertreterin einer internationalen Frauenorganisation in Genf verfügt – also über Weltläufigkeit und regionale Verwurzelung. Lochbihler ist bekennende Allgäuerin.

Was macht ai auch bei näherem Blick so sympathisch? Es ist die Fähigkeit, am einmal als richtig Erkannten festzuhalten, gleichzeitig aber gegenüber einer sich verändernden Wirklichkeit offen zu sein. Einen klaren Blick dafür zu entwickeln, dass Menschenrechtsverletzungen gesellschaftliche Ursachen haben, dabei aber Distanz zu halten zu Ideologien und politischen Programmen, mögen sie noch so fortschrittlich scheinen.

Leidenschaft zu verbinden mit akribischer Nachforschung, mit Seriosität hinsichtlich der präsentierten Fakten. Dieses Kunststück ist nur möglich geworden, weil in der Organisation Raum ist für Streit, auch für öffentlich ausgetragenen. Und weil die Perspektive auf das Einzelschicksal niemals hinter der noch so richtigen Welterklärung verschwindet.

Angefangen hat ai mit dem Einsatz für gewaltlose politische Gefangene, die wegen ihrer Weltanschauung oder Religion eingekerkert worden waren. Wie jede Großorganisation verfügt sie über eine schöne Gründungslegende. Der Londoner Anwalt Peter Benenson empörte sich bei der morgendlichen Lektüre des Daily Telegraph darüber, dass zwei Studenten im Portugal der Diktatur Antonio de Oliveira Salazars verhaftet und verurteilt worden waren, nur weil sie in einem Caféhaus die Freiheit hatten hochleben lassen.

Benenson schrieb daraufhin im Mai 1961 den Aufruf „The Forgotten Prisoners“, der, am Sonntag, den 28. Mai erstveröffentlicht, aber vielfach nachgedruckt, eine überwältigene Resonanz zeitigte. Das sei die Geburtsstunde von amnesty international. Stimmt alles, nur dass Benenson außerdem Labour-Abgeordneter war, die Opposition im Spanien der Franco-Diktatur unterstützt, bereits ein Buch über die Unterdrückung der spanischen Demokraten veröffentlicht und die Initiative im Namen der vergessenen Gefangenen sorgfältig vorbereitet hatte.

Spontane Geste oder das Resultat langer Überlegung – das Unternehmen ai zeichnete sich von Anfang an durch beide Charakterzüge aus. Vor allem war es vollständig unabhängig. Kein geringes Unterfangen, wenn man bedankt, dass damals der Kalte Krieg herrschte und ideologisch wie politisch zwei konträre Weltanschauungen und Militärblöcke (fast) alles bestimmten.

Dem sozialistischen Lager galt ai bald als westliche Diversionszentrale, sie trug, wie die Staatssicherheit der DDR es formulierte, „objektiv nachrichtlichen Charakter“ und war geeignet, „Feindtätigkeiten gegen die sozialistischen Staaten zu unterstützen“. Umgekehrt galt den westlichen Staatsschützern, nicht zuletzt denen in der Bundesrepublik, ai als kommunistische Tarnorganisation, weil sie sich für verurteilte Kommunisten einsetzte. Später wurde sie sogar der Sympathien zum Terrorismus verdächtigt. 1977 durchsuchte nach der Entführung Hanns Martin Schleyers die „Sicherungsgruppe Bonn“ das ai-Sekretariat.

Dieser unbequeme Platz zwischen den Blöcken erwies sich, wie die vierzig Jahre von ai zeigen, als der einzig angemessene. Amnesty international war nicht zu funktionalisieren, nicht einmal für die radikalen Linken der späten Sechziger- und frühen Siebzigerjahre. Die Linken vervielfachten die Zahl der ai-Aktivisten. Gleichzeitig aber verfochten sie die These, dass ai die Ursachen der Unterdrückung zu benennen versäume. Sie traten dafür ein, die imperialistische Unterdrückung bewaffnet zu bekämpfen und drängten die Organisation zu entsprechenden Parteinahmen.

Um ein Haar hätte sich ai in diesem Streit gespalten. Dass es nicht so weit kam, dass die Organisation damals also nicht zu einer Agentur der nationalen Befreiungsbewegungen mutierte, ist der Diskussionsbereitschaft und der Flexibilität der Menschenrechtsaktivisten zu danken. Behutsam, aber kontinuierlich wurde das Mandat der Organisation erweitert.

Zu Anfang der Siebzigerjahre wurde festgelegt, dass Folteropfern auch dann zu helfen sei, wenn sie vorher einer Guerilla angehört hätten. Kriegsdienstverweigerer, später Gefangene, die wegen ihrer sexuellen Orientierung verfolgt wurden, traten als Menschen, die Solidarität und Hilfe benötigen, hinzu. Auch eine – überaus erfolgreiche – Kampagne zur Abschaffung der Todesstrafe wurde in jener Zeit gestartet und gehört heute noch zu den Hauptaktivitäten von ai. Die Rüstungsexporte samt ihren Folgen, der Unterdrückung politischer, religiöser oder ethnischer Minderheiten, gerieten ins Fadenkreuz, zunehmend auch das Schicksal politischer Flüchtlinge.

Dennoch wurde ai nie zu einer Nichtregierungs-UNO. Denn mit der Zeit veränderte sich der Aufgabenkreis – Beachtung fanden schließlich Menschenrechte in politischer und sozialer, in ökologischer und kultureller Hinsicht. Aber der Fokus auf das verletzte, einzelne Opfer wurde niemals aufgegeben. Hierzu Barbara Lochbihler: „Mit politischen Intellektuellen identifizieren wir uns gern. Wir bewundern sie, wir möchten sein wie sie, so mutig. Was aber, wenn andere Opfergruppen ins Bild kommen? Lesben und Schwule, Straßenkinder? Kriminelle, religiöse Fanatiker? Soll ich mich für einen verfolgten Islamisten einsetzten, dessen Credo ich verabscheue? Hier besteht die Gefahr, dass wir auf sicheren Boden zurückspringen. Aber die Realität fordert uns heraus.“ Lochbihler jedenfalls ist gegen abgehobene Diskussionen über die Grenzen des Mandats von ai. „Die Realität“ ist ihr Stichwort. Die Wirklichkeit der Unterdrückung diktiert, was getan werden muss.

Das gilt auch für den Gegner. Lange Zeit waren es ausschließlich Staaten, an deren Adresse sich ai mit Beschwerden, mit Vorschlägen richtete. Aber verletzen Befreiungsbewegungen nicht auch Menschenrechte, vor allem wenn sie über längere Zeit einen Teil des Staatsterritoriums kontrollieren, gegen dessen Machthaber sie kämpfen? Was tun, wenn der Staat zerfällt, wenn Kriegsherrn und bewaffnete Banden unter der Zivilbevölkerung wüten? Und wie steht es mit denen, die in etablierten Staaten über gesellschaftliche Macht verfügen, die sie unterdrückerisch einsetzen, wie bei der Gewalt gegen „unberührbare“ Frauen, die im indischen Utah Pradesh oder Rhadjestan seitens der Großgrundbesitzer ausgeübt wird? Müssen nicht auch die multinationalen Konzerne zur Verantwortung gezogen werden, wenn sie die Lebensgrundlagen der einheimischen Bevölkerung untergraben? Die an ai geknüpften Hoffnungen steigern sich, das Feld der Recherche muss ständig erweitert, neuen Opfergruppen muss, oft dringend, geholfen werden. Kann das gut gehen? ai muss den Widerspruch aushalten zwischen gründlicher Nachforschung einerseits, die die Glaubwürdigkeit der Organisation begründet, und der Notwendigkeit rechtzeitiger Intervention andererseits, von der ihre Effektivität abhängt. Mit den Worten der „Researcherin“ (etwa: Nachforscherin) Angelika Pathak: „Der Druck der Aktualität und die Verifizierbarkeit stehen seit jeher auf Kriegsfuß miteinander.“ Die Aufgaben werden komplexer, je mehr die Ursachen von Menschenrechtsverletzungen einbezogen werden. Aber: „Die Aufmerksamkeit der Medien ist chronisch kurzzeitig.“

Für die Zuverlässigkeit der Recherche steht seit den Anfängen von ai das Team hauptamtlicher Researcher in der Londonder Zentrale. Früher war das „Reseaerch Department“ der Olymp der Organisation. Verehrt, geheimnisumwittert. Zu Beginn der Neunzigerjahre haben sich die Researcher in fünf Regionalabteilungen aufgeteilt, die mit der Aktionsplanung, dem „Campaigning“ und der Mitgliederwerbung organisatorisch verzahnt sind. Dabei war und ist das Verhältnis der Londonder Nachforscher zu den Ländergruppen nicht frei von Spannungen. Denn welche schon seit Jahren arbeitende Ländergruppe bestünde nicht auf ihrer Autonomie, welche würde die erworbene Fachkompetenz nicht kritisch gegenüber den Materialien der „Londoner“ ins Feld führen?

Dennoch wird die Arbeit der zentralen Fachleute als unverzichtbar angesehen. Gerade in diktatorischen oder halbdemokratischen Ländern ist die Recherchearbeit, der Kontakt mit zuverlässigen Gewährsleuten, die Verbindung mit Angehörigen und Anwälten kompliziert, sie ist Vertrauenssache.

Insofern ist die Gefahr, dass Nachforschungen von Seiten der Täter manipuliert werden, der heimische Geheimdienst eine Falle aufstellt, groß. Aber auch politische Freunde der Opfer sind oft in Versuchung, die Ermittlungen in eine ihnen genehme Richtung zu lenken. Gerade bei der Erarbeitung der action files, der Unterlagen, aufgrund derer sich die Basisgruppen eines politischen Gefangenen, eines Verschwundenen, eines Gefolterten annehmen, ihn „adoptieren“, hängt alles von Exaktheit ab. Und für die bürgt nach wie vor die Londoner Zentrale. Aber auch die Ländergruppen gewinnen an Bedeutung. Sie koordinieren die Arbeit der ai-Basisgruppen, konzentrieren Expertenwissen, arbeiten zusätzliches Material aus. Ko-Gruppen-Spezialisten nehmen an Recherchen teil, an Prozessbeobachtungen, wechseln auch zur Zentrale nach London. Die Beziehung zu den hauptamtlichen Researchern ist keine Einbahnstraße mehr.

Das trifft nicht nur auf die alteingesessenen Ko-Gruppen zu, sondern auch für Newcomer wie die heutige Ko-Gruppe zu Weißrussland, die sich vor zehn Jahren neu konstituiert hat. Die Ko-Gruppe erarbeitet einen Rundbrief, dessen fünfte Ausgabe vor einem halben Jahr erschienen ist und der allgemeine politische Einschätzungen, Dokumente, eine Chronik der Menschenrechtsverletzungen und sorgfältig dargestellte Einzelfälle versammelt. Dabei geht es nicht nur um Promis wie den ehemaligen weißrussischen Premier Juri Sacharenko, sondern auch um „einfache“ demokratische Aktivisten, die im Gefängnis sitzen oder Opfer polizeilicher Repression wurden.

Die Ko-Gruppe ist auch selbst aktiv, schreibt Briefe, Appelle, organisiert Infostände wie voriges Jahr bei der Expo in Hannover. Hier arbeiten Menschen zusammen, die sich ihre Kenntnisse teils durch die ai-Arbeit erworben haben, teils „von Haus“ aus schon spezialisiert sind und – ein seltener Fall – wo die Ossis ein leichtes Übergewicht halten.

Und wie steht es um die Zusammenarbeit der deutschen ai-Sektion mit der rot-grünen Regierung? „Wir könnten jeden Tag zwei Treffen mit dem Auswärtigen Amt haben“, sagt Barbara Lochbihler. ai werde angehört, Gutachten werden entgegengenommen, der Kontakt mit Gerd Poppe, dem Menschenrechtsbeauftragten, ist gut. Vor jeder der jährlichen Tagungen der Menschenrechtskommission trifft sich das „Forum Menschenrechte“, das alle relevanten Menschenrechtsgruppen versammelt, und diskutiert mit Fachgruppen des Außenministeriums.

Selbst bei den Lageberichten des Auswärtigen Amtes zu einzelnen Ländern, die für die Asylgewährung entscheidend sind, werden Stellungnahmen von ai und anderen Menschenrechtsorganisationen eingeholt. „Aber“, so Barbara Lochbihler, „die eine Seite ist, zuzuhören, Fachexpertisen anzunehmen. Die andere Seite: Wo schwerwiegende Regierungsinteressen im Spiel sind, also etwa im Fall Chinas oder Russlands, ist die Antwort auf unsere Forderungen die gleiche geblieben wie unter der Regierung Kohl, nur rhetorisch ausgefeilter. Sie lautet: Als Nichtregierungsorganisation könnt ihr Menschenrechtsverletzungen anprangern, wir als Regierung können das nicht.“

An Stelle des „Menschenrechtsdialogs“ mit China ist jetzt der „Rechtsstaatsdialog“ getreten. An diesem Dialog teilzunehmen lehnt ai ab. Er führe zu nichts. „Im Kern“, so Lochbihler, „hat die Regierung die Funktion der Nichtregierungsorganisationen nicht verstanden. Sie ist beleidigt, wenn wir sie kritisieren. Sie sagen, wir sind doch genauso wie ihr. Aber das ist ein Irrtum.“

CHRISTIAN SEMLER, 62, taz-Autor und -Redakteur seit 1989, lebt in Berlin

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