Müll wird ein sauberes Geschäft


aus Melsdorf HEIKE HAARHOFF

Im Keller, da stehen die Akten. Zig Tonnen Altöl verschiedener Jahrgänge und Herkunft – nach einer „Bestimmungsverordnung besonders überwachungsbedürftige Abfälle“ als „halogenfreie Bearbeitungsemulsionen und -lösungen“ und nach dem Abfallschlüssel 120109 klassifiziert – sind hier auf Papier dokumentiert, das sich „Begleitschein“ nennt, samt ihrer jeweiligen Entsorgungsnachweisnummer, ihrer Erzeugernummer, ihrer Beförderernummer, ihrer Entsorgernummer sowie ihren bis zu sechs zwingend nötigen verschiedenen Unterschriften, getätigt von wechselnd verantwortlichen Abfallerzeugern, Abfalltransporteuren, Abfallentsorgern.

Dabei handelt es sich nicht etwa um ein Papier für sämtliches Altöl, das je die Firmengrenze der RWE Umwelt Norddeutschland GmbH&Co. KG im Industriegebiet von Melsdorf bei Kiel passiert hat. Weit gefehlt, für jeden Einzeltransport gibt es einen Begleitschein, aufzubewahren bis mindestens zehn Jahre nach Stilllegung der Anlage. Als Lektüre noch im Angebot: Begleitscheine von Galvanikschlämmen, Leuchtstoffröhren, Teerpappen, chlorierten und nicht chlorierten Lösemitteln, Fixierbädern und Entwicklern, Kühl- und Bremsflüssigkeiten und was das Repertoire an Sonderabfällen sonst noch bietet.

EU fördert innovative Maßnahmen

Wolfram Härtel steht in einem der meterlangen Gänge zwischen den Regalwänden und fragt etwas kläglich: „Verstehen Sie jetzt?“ Härtel ist einer von 1.900 Mitarbeitern im Konzern der RWE Umwelt Norddeutschland, die sich auf das Lagern und die Behandlung von Abfällen spezialisiert hat, einer mit einer besonderen Aufgabe. Er leitet eine Reinigungsanlage für flüssige Sonderabfälle, und daneben ist er zuständig für die EDV, genauer gesagt: für die elektronische Datenerfassung aller Sonderabfallbegleitscheine. So richtig ermutigend ist da ein solcher Kelleranblick nicht.

Brücken würde er bauen! Beständige, Menschen und Orte verbindende Architekur schaffen!, hatte Wolfram Härtel geträumt, damals in der DDR, als er noch Biotechnologie studierte, erst in Köthen, wo Johann Sebastian Bach seine „Brandenburgischen Konzerte“ schrieb, später im estnischen Tallinn. Jetzt ist er 37 Jahre alt, wohnt seit zehn Jahren wegen einer Frau, wie er sagt, in Schleswig-Holstein und träumt von dem Tag, an dem das ganze Papier aus den Kellerregalen in einem Computer verschwindet. Es kann schon bald sein. Sein Dank wird der EU gelten, die ihn mit ihren Fördermitteln von dem Zettelwust erlöst.

Programme, die auf Knopfdruck Abfalldaten, Namen, Anschriften, Codenummern aller am Müllgeschäft Beteiligten auswerfen, gibt es längst. Allein die vielen Unterschriften lassen sich noch nicht elektronisch erfassen. Doch schon nächstes Jahr könnte der Durchbruch gelingen, wenn die entsprechende Software, wie geplant, fertig entwickelt ist. Mit einer Art Scheckkarte samt persönlicher Geheimzahl sowie einem Laptop ausgestattet, werden Verursacher, Transporteure und Entsorger dann per „digitale Signatur“ jedes Stück Weg dokumentieren, das der Abfall zurücklegt, und zwar rechtsverbindlich: Die elektronische Unterschrift zählt im Zweifel vor Gericht genauso viel wie die handschriftliche.

Ihre Daten übermitteln die Unterzeichner anschließend einem Zentralrechner, der Textdateien als Ersatz für die bisherigen papiernen Begleitscheine weiterleitet an alle Beteiligten, die die Durchschläge auch noch archivieren müssen, also Abfallerzeuger, Abfallbeförderer sowie die zuständige Aufsichtsbehörde. In Schleswig-Holstein ist das die Gesellschaft für die Organisation der Entsorgung von Sonderabfällen mbH (GOES) in Neumünster.

Jörg Wötzel, ihr Leiter, hofft auf weniger Verwaltung, mehr Transparenz und vor allem mehr Rechtssicherheit. „Zurzeit wissen wir manchmal nicht, wer für den Abfall verantwortlich zeichnet.“ Die Unterschriften seien oft unleserlich, wechselten häufig. So häufig, dass man böswillig annehmen könnte, wer gerade zufällig zur rechten Zeit am rechten Ort sei, unterschreibe ganz einfach. Nicht dass es in den vergangenen Jahren deswegen größere Skandale gegeben hätte. Aber bei 63.000 Begleitscheinen jährlich mit bis zu sechs Unterschriften sowie sechs Durchschlägen pro Exemplar für etwa 425.000 Tonnen Sonderabfälle, die allein in Schleswig-Holstein entsorgt werden, kann man schon mal die Übersicht verlieren. Und da, sagt Jörg Wötzel, „soll künftig besser werden“.

Mit 532.500 Euro fördert die Kommission in Brüssel aus ihrem Europäischen Fonds für Regionale Entwicklung (EFRE), Unterabteilung „Innovative Maßnahmen“, das Gemeinschaftsprojekt von GOES, RWE Umwelt Norddeutschland sowie fünf weiteren Unternehmen der Branche. Dazu kommen 213.210 Euro aus dem schleswig-holsteinischen Landeshaushalt, und 319.290 Euro bringen die Projektpartner selbst auf.

„Ohne die öffentliche Förderung hätten wir diesen Schritt nie gewagt“, sagt Jörg Wötzel. Seine Abfallbehörde etwa muss sich selbst finanzieren und jedes Jahr einen ausgeglichenen Haushalt nachweisen. Für Investitionen in die Zukunft bleibt da kaum Spielraum, zumal wenn das Ziel auf den ersten Blick mickrig wirkt: Wenn nur 500 der 63.000 jährlichen Begleitscheine in Schleswig-Holstein zum Projektende, also Ende 2003, elektronisch erfasst werden können, werden Jörg Wötzel, Wolfram Härtel und ihre Kollegen sich beglückwünschen. Denn die Arbeitserleichterung ist ja schön und gut. Noch besser aber ist, dass die Scheine zur Erfassung von Sonderabfällen in allen Bundesländern einheitlich sind. Exzellente Exportaussichten für die Schleswig-Holsteiner also, nach der EU-Osterweiterung möglicherweise sogar ins Ausland. Strenge Kontrollen und Sicherheitsstandards für gefährliche, gesundheits- oder umweltschädliche Industrieabfälle sind schließlich überall nötig, die Männer aus Deutschlands Norden könnten ihr Know-how nach Osten bringen, Schulungen anbieten, verschlungene Transportpfade europaweit zurückverfolgen helfen durch die Technik von zu Hause.

Im schleswig-holsteinischen Wirtschaftsministerium in Kiel weiß Cornelia Händel, im Referat für Multimedia und Telekommunikation mit den komplizierten europäischen Föderregelungen für strukturschwache Regionen auf Du und Du, dass genau hier die Chance für das dünn besiedelte Flachland zwischen Nord- und Ostsee liegt, mit seinen brachliegenden Werften, seinen bäuerlichen Strukturen und seinem florierenden, aber längst nicht die Mehrheit der Bevölkerung ernährenden Tourismus. Wenn sich die EU gen Osten ausdehnt, das kann sich die Fachfrau an zwei Fingern ausrechnen, wird die Armut einzelner Landstriche besonders an der schleswig-holsteinischen Westküste nur noch eine relative sein.

In Kiel hat man sich längst an den Gedanken gewöhnt, dass Brüsseler Fördermittel endlich sind und Umverteilung droht. „Alles andere wäre ja Bestandsdenken“, sagt Cornelia Händel, „und das ist schädlich.“ Sorge, dass alles Geld künftig komplett in den Osten fließen könnte, hat sie trotzdem nicht. Künftig, hat sie bei Besuchen in Brüssel erfahren, werde es in den schwächeren Regionen der Alt-EU-Mitglieder vor allem darum gehen, die Kommission mit innovativen Ideen zu überzeugen, solchen, die weniger auf Straßenbau oder Stadtteilsanierung abzielen als vielmehr auf eine technologische Fortentwicklung der Region: auf IT-Labore in Schulen beispielsweise, Existenzgründungen aus Hochschulen, internetbasiertes Tourismusmarketing oder mobile Logistik im Bauhandwerk. „Wir müssen zeigen, dass geografische Randlage nicht gleichbedeutend ist mit technologischer Randlage.“

Die EU hält diesen Beweis bereits für erbracht: Sie zeichnete Schleswig-Holstein im letzten Winter unter 80 Bewerbern mit dem ersten Platz für innovative Projekte aus dem Bereich „Förderung der Informationsgesellschaft“ aus. Eines der Projekte: die Einführung der digitalen Signatur für Sonderabfälle.

„Ströme müssen erfasst werden“

Wolfram Härtel hat seinen Aktenkeller in Melsdorf verlassen und führt jetzt durchs Zwischenlager, wo der ankommende Müll zu Transporteinheiten zusammengekippt wird. Er führt vorbei an verzinkten Sammelstahltanks hin zu den Männern in orangefarbenen Sicherheitsanzügen an der Eingangskontrolle, dort, wo die Lastwagen anhalten, um die rechtmäßige Ablieferung der Sonderabfälle per Unterschrift bestätigen zu lassen, demnächst per digitale.

An einer Palette voll Leuchtstoffröhren macht er Halt, „Schwarzlicht aus der Disko“. Er lächelt. Die digitale Signatur ist nur der Anfang. „Nehmen Sie die Lebensmittelwirtschaft und ihre Skandale“, sagt Härtel, „Futtermitteltransporte, Futtermittellagerung, Futtermittelmischung und -herkunft“. Er klingt immer aufgeregter. „Auch dort sind strenge, nachvollziehbare Kontrollen nötig, müssen Ströme erfasst und prognostiziert werden.“ Das neue Sonderabfallsystem könnte Vorbild werden, Versäumnisse der manuellen Informationsweitergabe vermeiden und helfen, Verantwortliche, Vertuscher, Schlamper aus der Branche ausfindig zu machen.

Brücken bauen! Beständiges schaffen! Große Vorhaben kommen immer zum Ziel. Sogar in Aktenkellern.