Morales und Indigenas: Zwischen Poncho und Krawatte
Der Armenbezirk der reichen Bezirkshauptstadt Santa Cruz gilt als Hochburg der Bewegung von Evo Morales. Ein Rundgang.
Immer wieder stockt die Karawane der Kleinbusse. Armselige Verkaufsstände aus Holz und Blech säumen die staubige, unasphaltierte Hauptverkehrsstraße. Auf den Bürgersteigen nimmt das Gewusel zu. Die "Rotonda" ist das Herz von Plan Tres Mil, dem riesigen Armenbezirk der ostbolivianischen Tieflandmetropole Santa Cruz de la Sierra.
Auf dem kleinen Areal kämpft eine Handvoll zerzauster Palmen ums Überleben. Daneben ist auf einem Betonpfeiler die Whipala hochgezogen, die aus 49 bunten Quadraten bestehende Fahne der Anden-Indígenas. Darüber weht das Rot-Gelb-Grün Boliviens. Die Symbolik ist klar: Hier haben die Anhänger von Evo Morales, dem ersten indigenen Präsidenten Boliviens, das Sagen. Vor einem Jahr hat sich das Land eine neue Verfassung gegeben und nennt sich nun nicht mehr Republik, sondern "Vielvölkerstaat".
Die Linkswende, für die Morales seit vier Jahren steht, ist umstrittener, als es das Wahlergebnis vom Dezember suggeriert: Da übertrafen Evo Morales und seine Bewegung zum Sozialismus mit 64 Prozent ihr erstes Ergebnis noch einmal um 10 Prozent. Im Vergleich zu 2005 konnte "das Bündnis zwischen Poncho und Krawatte" vor allem bei der urbanen Mittelschicht im Hochland zulegen.
Die wirklich Reichen fürchten um ihre Privilegien. Besonders heftig wehrt sich die weiße, spanischstämmige Oligarchie von Santa Cruz gegen die Politik der Zentralregierung. Angeführt von wohlhabenden Großgrundbesitzern, streben die Cruceños in der rohstoffreichen Region eine weitreichende Autonomie an. Im September 2008 wäre die Kraftprobe mit La Paz beinahe in einen Bürgerkrieg gemündet.
Von den heftigen Straßenschlachten in Plan Tres Mil ist auf den ersten Blick nichts mehr zu sehen. An den Straßenständen werden neben Lebensmitteln massenweise DVDs und CDs als Raubkopien feilgeboten, Artikel für Haushalt und Hygiene, Schreibwaren, Kleider, Schuhe. Remigia Miguel, eine kräftige Frau mit langem, schwarzem Zopf, verkauft Schuhe: "Das Geschäft läuft schlecht", klagt sie, "es gibt immer mehr Schuhverkäufer." Zurzeit verdient die neunfache Mutter weniger als ihr Mann, der in einer Schneiderwerkstatt angestellt ist. "Dort wird es auch immer schwieriger, weil so viele Altkleider aus den USA importiert werden", berichtet die 45-Jährige.
Als junge Frau ist sie mit ihrer Familie aus dem Hochland nach Santa Cruz gekommen - auf der Suche nach Arbeit und einem besseren Leben. Vier ihrer Geschwister sind nach Spanien ausgewandert. In Santa Cruz nennen viele Alteingesessene die dunkelhäutigen Zuwanderer verächtlich "Collas" - nach einem Indianervolk aus den Anden. Parallel zum Aufstieg von Evo Morales zeigt sich auch der Rassismus der "Cambas", der "echten" Cruceños, immer unverhüllter. Den erlebt auch Remigia Miguel beim Straßenverkauf in der kolonialen Altstadt von Santa Cruz täglich. Meist wortlos, aber manchmal muss sie auch einen Schwall von Beschimpfungen über sich ergehen lassen.
Den Präsidenten möchte sie für ihre Probleme nicht verantwortlich machen. "Die hiesigen Politiker lassen ihn doch gar nicht regieren", meint sie. "Jetzt gibt es Zuschüsse für Schulkinder und Schwangere, und die Alten bekommen eine höhere Rente", benennt sie die drei wichtigsten Sozialprogramme, die die Regierung aufgelegt hat. Möglich wurde dies, weil Morales im Rahmen seiner Nationalisierungspolitik den Staatsanteil am Erdgasexport drastisch erhöhte: 2005 blieben dem Staat 27 Prozent der Reingewinne, heute sind es, je nach Förderanlage, 65 bis 77 Prozent.
Die Anfänge von Plan Tres Mil gehen ins Jahr 1983 zurück, als die Stadtverwaltung nach einer Überschwemmungskatastrophe in dem Gebiet zwölf Kilometer südöstlich des Stadtzentrums 3.000 Familien ansiedelte. María Zabala Cortez, 72, war damals dabei. Als Vorsitzende des ersten Nachbarschaftsrates stritt sie für Busse, Trinkwasseranschlüsse und Schulen.
Ihre elfköpfige Familie ernährte sie von ihrem Lohn als Waschfrau in einem Hotel und einem Krankenhaus. "Es war eine harte Zeit. Mein Mann war Schreiner, später haben wir Brot gebacken und eine kleine Pension aufgemacht. Alle meine neun Kinder haben studiert", erzählt sie stolz. Aus ihrer Holzhütte ist ein geräumiges Steinhaus mit einem hübschen Innenhof geworden.
Ein einzelner spanischer Priester habe mehr für das Gebiet geleistet als sämtliche Politiker, meint María Zabala, Arbeitslosigkeit und Kriminalität seien heute die größten Probleme. "Schuld daran sind die hiesigen Politiker, aber auch die Zentralregierung. Die blockieren sich gegenseitig", beklagt sie die Polarisierung der politischen Lager in Santa Cruz.
Mit seinen vielen kleinen Vierteln ist Plan Tres Mil das Gegenstück zu El Alto, dem riesigen Slumbezirk von den Ausmaßen einer Großstadt oberhalb von La Paz. Zwischen 250.000 und 300.000 Menschen sollen in Plan Tres Mil wohnen, fast ausschließlich arme, aus ländlichen Gebieten zugewanderte BolivianerInnen indigener Herkunft. In Bolivien stellen die Indígenas zwei Drittel der Gesamtbevölkerung. Doch anders als in El Alto, wo sich schon viele Klein- und Mittelbetriebe angesiedelt haben, ist Plan Tres Mil noch überwiegend eine Schlafstadt - die meisten Einwohner arbeiten in den wohlhabenderen Bezirken von Santa Cruz.
Auch die Infrastruktur lässt zu wünschen übrig. Kaum eine Straße ist asphaltiert, die medizinische Versorgung ist prekär. "Die Stadtverwaltung leitet nur einen kleinen Teil der Haushaltsmittel nach Plan Tres Mil, der Hochburg der Regierungspartei, weiter", berichtet Alex Guzmán, Chefredakteur der linken Lokalzeitung El Guaraní. "Deswegen strebt die Basis eine eigene Stadtverwaltung an, aber Bürokratie, korrupte Genossen und die Unfähigkeit eines Abgeordneten haben das bislang verhindert", sagt er. Immerhin unterstützt die Regierung den Bau eines Abwassersystems, einer Turnhalle und einer polytechnischen Fachhochschule; auch eine neue Markthalle ist geplant.
"So wie durch den Gaskrieg von El Alto im Oktober 2003 der neoliberale Präsident Gonzalo Sánchez de Lozada gestürzt wurde, so war der hiesige Widerstand entscheidend für die Niederlage der Autonomisten", bringt Domingo Faldín die nationale Bedeutung des kämpferischen Stadtbezirks auf den Punkt. Mit Jugendlichen aus Plan Tres Mil organisiert der rührige Sozialarbeiter Kulturprojekte - Stelzentanz, Theater, Musik. Es ist sein Beitrag zur "demokratisch-kulturellen Revolution" des Präsidenten: "Dadurch wird das Selbstbewusstsein der jungen Leute gestärkt, und etwas Ähnliches passiert in ganz Bolivien, seitdem Evo regiert."
Faldíns Workshops finden im "Integrierten Justizzentrum" am "Platz der Fackel" statt - dort, wo in früheren Zeiten die Flamme einer Erdgasanlage die einzige nächtliche Lichtquelle für die Bewohner darstellte. Heute bietet eine Parkanlage mit Spielplätzen eines der seltenen Freizeitangebote in Plan Tres Mil, doch einladend wirkt die trockene, baumlose Anlage nicht gerade.
Im Justizzentrum, das mit britischen und US-amerikanischen Geldern gebaut wurde, erhalten die Anwohner kostenlose Rechtsberatung und Hilfe bei ihrem Kampf mit der Bürokratie. "Es geht uns darum, den Ärmsten die Bürgerrechte zu garantieren, angefangen bei der Geburtsurkunde", sagt Hipólito Díaz Sandoval, der Leiter des Zentrums. "Regieren ist nicht leicht, wenn große Teile des Staatsapparats bislang in den Händen der Vorgänger lagen und von ihnen übernommen werden müssen. Die rassistische Rechte blockiert, so viel sie nur kann", sagt der Funktionär des Justizministeriums, ein Parteigänger von Präsident Morales.
Der größte Fehler der Regierung sei es gewesen, die Autonomiefrage den Konservativen überlassen zu haben, setzt er noch hinzu, dadurch seien sie jetzt in der Defensive.
Hoffnungsfroh
Zuversichtlich sieht Diego Huaniquina in die Zukunft. Auf dem Bürgersteig repariert der 25-jährige Schuster tagsüber Lederwaren und verkauft die Schuhe, die er abends in Heimarbeit herstellt. "Früher habe ich in einer Schuhfabrik in Cochabamba gearbeitet", erzählt er, "doch da ist mir nur ein Bruchteil des Erlöses geblieben." Die Billigware aus China sei für seine Schuhe keine Konkurrenz, lacht er.
Doch Huaniquina setzt nicht nur auf die eigene Kraft. Er ist Mitglied einer Kooperative, die auf einen lukrativen Regierungsauftrag hofft. Militärstiefel, die derzeit teuer aus der Schweiz importiert werden, sollen künftig in Bolivien produziert werden, hat er gehört. Und: "Für die Maschinen hat uns die Regierung einen Kredit versprochen".
An der Rotonda geht das Treiben bis in den späten Abend weiter. Die Kleinbusse spucken jene Bewohner aus, die als Straßenverkäufer, Hausangestellte oder Wachleute im "reichen" Santa Cruz arbeiten. Für sie bleibt Evo Morales, der es mit Ausdauer an die Spitze des Staates geschafft hat, Vorbild und Hoffnungsträger.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Nan Goldin in Neuer Nationalgalerie
Claudia Roth entsetzt über Proteste
taz-Recherche zu Gewalt gegen Frauen
Weil sie weiblich sind
Politikwissenschaftlerin über Ukraine
„Land gegen Frieden funktioniert nicht“
Krieg in der Ukraine
Kein Frieden mit Putin
Verein „Hand in Hand für unser Land“
Wenig Menschen und Traktoren bei Rechtspopulisten-Demo
Scholz und Pistorius
Journalismus oder Pferdewette?