Montagsinterview: "Ich sehe viele Tränen"
Armut gehört für ihn zum Alltag. Als Richter am Sozialgericht ist Michael Kanert ständig mit notleidenden Menschen konfrontiert.
taz: Herr Kanert, können Sie sich vorstellen, von 347 Euro - dem Regelsatz für Hartz-IV-Empfänger - zu leben?
Michael Kanert: Ein Richter muss beim Regelsatz prüfen, ob das Gesetz, das diesem Satz zugrunde liegt, verfassungsgemäß ist und richtig angewendet wird.
Sie weichen aus.
Ich weiß, dass ein Leben mit 347 Euro harte Einschnitte bedeutet. Das war aber schon bei der alten Sozialhilfe so. Die Verfassung garantiert nur ein Minimum an Existenzsicherung. Gerichte können keine höheren Leistungen erzwingen. In einer Demokratie entscheidet diese Fragen das Parlament.
Das Sozialgericht ist zuständig für Streitigkeiten über soziale Sicherungsfragen: Hartz IV, Arbeitslosengeld, Renten, Krankenversicherung und vieles mehr. Sie haben es mit einer verdammt trockenen Materie zu tun.
Das finde ich nicht. Hinter jedem Aktendeckel steckt ein Mensch.
Ist das nicht eine Plattitüde?
Das ist keine Plattitüde. Diese Menschen können Sie jeden Tag hier in den Gerichtssälen treffen.
Viele Kläger befinden sich in einer Notlage. Macht Ihnen das zu schaffen?
Das lässt einen natürlich nicht unberührt. Ich sehe zum Beispiel bis heute den Rollstuhlfahrer vor mir, der eine Rente wegen Erwerbsminderung wollte. Die bekommt man nur, wenn man so krank ist, dass man nicht mehr arbeiten kann. Der Mann war schwer krank. Er hatte Parkinson. Er saß mit zitternden Händen im Gerichtssaal und hatte alle Sympathien des Gerichts. Trotzdem mussten wir die Klage abweisen, weil er keine Versicherungsbeiträge mehr gezahlt hatte.
Warum fällen Sie in so einer Situation kein anderes Urteil?
Wir befinden wir uns nicht mehr im Mittelalter, wo nach Gutsherrenart Recht gesprochen wurde. Jeder Mensch kann sich darauf verlassen, dass nach Recht und Gesetz und nicht nach Sympathie und persönlichen Vorlieben entschieden wird. Das macht unseren Rechtsstaat aus. Auch wenn die Urteile manchmal nicht im Sinne der Kläger ausgehen, gelingt es den Sozialrichtern doch in den meisten Fällen, den Rechtsfrieden wiederherzustellen.
Das müssen Sie erklären.
Nehmen wir das Bespiel eines ehemaligen Zwangsarbeiters, der von den Nazis aus Ungarn nach Deutschland verschleppt worden war und hier einen Rentenanspruch geltend gemacht hat. Aus dem Zwangsarbeiterentschädigungsfonds hatte er schon eine kleine Summe zugesprochen bekommen. Wir mussten die Klage abweisen, weil kein weitergehender Anspruch bestand. Ich habe mit dem Mann lange Gespräche geführt. Später hat er uns aus den USA, wo er wohnte, einen Brief geschrieben.
Was stand drin?
Er akzeptiere die Entscheidung und verzichte auf alle Rechtsmittel. Er bedanke sich noch mal, dass ihm ein Richter zugehört und als Opfer des Nationalsozialismus ernst genommen habe. Der Fall zeigt: Obwohl wir die Klage abgewiesen haben, konnte der Mann Frieden mit seiner Lage schließen.
Sie verklären die Verhältnisse.
Keineswegs. Nehmen wir die Hartz-IV-Verfahren. Mit 30.000 Verfahren seit Inkrafttreten der Reform ist das Berliner Sozialgericht im Bundesvergleich absoluter Spitzenreiter. In den Geschäftsstellen türmen sich die Aktenberge. Aber kaum jemand weiß: Über 80 Prozent der Hartz-IV-Hauptsacheverfahren gehen ohne eine gerichtliche Entscheidung zu Ende, weil sich die streitenden Parteien im Verlaufe der Verhandlung auf andere Weise einigen. Das liegt nicht zuletzt an der Befriedungsfähigkeit von uns Richtern. Darauf sind wir hier ziemlich stolz.
Was zeichnet einen guten Sozialrichter aus?
Er muss die komplizierten Paragrafen beherrschen, klar. Aber außerdem muss er Geduld und Einfühlungsvermögen haben, gründlich ermitteln und gut zuhören können. Viele Kläger haben keinen Rechtsanwalt; nicht alle sind in der Lage, ihr Anliegen schriftlich zu formulieren.
Sehen Sie oft Tränen?
Durchaus. Es gibt zwei Arten von Tränen: die echten und die bestellten. Die bestellten Tränen fließen, wenn jemand eine Krankheit simuliert, um eine Sozialleistung zu bekommen.
Wie finden Sie heraus, ob jemand simuliert?
Die Leute werden ärztlich begutachtet. Wenn jemand bei der Untersuchung seines Beins bei jeder Bewegung "Aua" schreit, in einem unbeobachteten Moment aber ganz normal läuft, wird man natürlich hellhörig. Manchmal muss man sich lange mit einem Fall beschäftigen, um sicher zu sein. Vor allem aber gilt: Man muss immer beide Seiten hören. Das kommt mir übrigens auch bei privaten Konflikten zugute.
Das interessiert uns genauer.
Durch die Tätigkeit als Richter habe ich gelernt, auch in meinem Freundeskreis besser zuzuhören. Und ich ziehe eher in Betracht, dass sich hinter einem schnell gesagten Wort noch mehr Fakten verbergen. Konflikte transparent zu machen und zu einer Lösung beizutragen, hat mich schon zu Schulzeiten interessiert.
Wenn es auf dem Schulhof Schlägereien gab, sind Sie immer schlichtend dazwischengegangen?
Glücklicherweise bin ich auf eine Schule gegangen, wo Schlägereien nicht an der Tagesordnung waren. Ich bin in der behüteten schwäbischen Provinz aufgewachsen.
Sie haben in Heidelberg und Freiburg Jura studiert. 1995 sind Sie dann als Richter nach Berlin gegangen. Warum gerade hierher?
Weil Berlin eine tolle, aufregende Stadt ist. Ich bin neugierig auf Leute. Und hier kommen viele spannende Menschen zusammen.
Berlin ist aber auch eine sehr arme Stadt.
Als ich am Bahnhof Zoo ankam, habe ich gesehen, wie sich Leute aus dem Mülleimer Essensreste herausgeholt haben. Das war einer meiner ersten Eindrücke von Berlin. Auch in Baden-Württemberg gibt es arme Menschen. Aber in dieser offenen Form kannte ich das noch nicht.
Wollten Sie eigentlich immer Sozialrichter werden?
Eigentlich wollte ich überhaupt nicht ans Sozialgericht. Ich bin nämlich auch dem Vorurteil aufgesessen, dass das eine sehr trockene Materie ist. Dass man sich mit Versicherungsformularen und ärztlichen Attesten herumschlagen muss. Aber ich habe schnell gemerkt, dass hinter den trockenen Fragen Menschen und Schicksale stehen. Abgesehen davon haben wir hier zum Teil auch Milliarden-Prozesse zu entscheiden.
Wie bitte?
Ein Pharmakonzern hat beispielsweise die Krankenkassen verklagt, weil die bei bestimmten Medikamenten nur noch einen Betrag X übernehmen. Der Konzern hat angegeben, dass er pro Jahr eine halbe Milliarde Euro Umsatz verliert, wenn das so bleibt.
Ist schon eine Entscheidung ergangen?
Der Pharmakonzern hat verloren. Er hat aber Berufung eingelegt.
Sind Sie ein Workaholic?
Eigentlich nicht - inzwischen könnte man aber den Eindruck haben. Das Arbeitspensum der 80 Richterinnen und Richter am Sozialgericht ist einfach zu groß und nicht mehr zu schaffen. Schon bis September haben wir in diesem Jahr mehr Hartz-IV-Klagen bekommen als im gesamten letzten Jahr. Wir sind alle am Limit der Belastbarkeit.
Haben Sie ein spezielles Rezept, um von der Arbeit abzuschalten?
Ich jogge, ich spiele Keyboard, und ich höre ganz viel Musik. Am liebsten Deep Purple. Der Sound ist vital und kraftvoll.
Sie haben auch über eine Klage des früheren DDR-Spionagechefs Markus Wolf verhandelt. Worum ging es?
Der Kläger hatte in der DDR eine Ehrenrente als Opfer des Faschismus bezogen. Die war ihm nach der Wende wegen des Vorwurfs aberkannt worden, gegen die Menschenrechte verstoßen zu haben.
Wie haben Sie entschieden?
Die Kammer war der Meinung, dass dem Kläger die Ehrenrente zu Recht aberkannt worden ist. Nicht wegen der Spionage, sondern weil er einem "Kollegium" hochrangiger Stasi-Generäle angehört hat. Dieses Kollegium hat Erich Mielke beraten
den Minister für Staatssicherheit der DDR
beispielsweise bei der großflächigen Bespitzelung von Jugendlichen in der DDR. Das letzte Wort in dem Fall ist aber noch nicht gesprochen, weil der Kläger in Berufung gegangen ist.
Markus Wolf ist doch vor einem Jahr gestorben.
Die Erben können Prozesse fortsetzen.
Der Regierende Bürgermeister Klaus Wowereit hat unlängst gesagt: Es nutze nichts, Hartz-IV-Empfängern den Regelsatz zu erhöhen, weil solche Familien nicht mit Geld umgehen könnten. Wie finden Sie das?
Als Richter ist es nicht meine Aufgabe, Äußerungen von Politikern zu kommentieren.
Versuchen wir es mit einem anderen Thema: Die SPD will den Bezugszeitraum von Arbeitslosengeld I für ältere Arbeitslose wieder verlängern. Gut oder schlecht?
Wie gesagt: Ich kommentiere keine Äußerungen von Politikern. Was viele in dem Zusammenhang übrigens nicht wissen: Man hatte die Bezüge für Arbeitslose ja gekürzt, um zu verhindern, dass die Arbeitsplätze älterer Mitarbeiter auf Kosten der Sozialkassen abgebaut werden. Gleichzeitig hat man aber die Haftung der Arbeitgeber für die sozialen Folgekosten dieses Abbaus aufgehoben, obwohl das eine durchaus wirksame Regelung war. Wir hatten hier Hunderte von Klagen
das klingt ja alles schrecklich bürokratisch.
Auf dieses Phänomen stoße ich immer wieder. Weitreichende Fragen werden als trocken und bürokratisch abgetan. Ich bin hier am Sozialgericht ja auch Pressesprecher. Ich muss mich manchmal ziemlich anstrengen, damit mir von der Presse überhaupt jemand zuhört. Ich beobachte das mit Sorge.
Warum?
Weil es bedeutet, dass die Fragen und Probleme, mit denen wir uns hier am Sozialgericht befassen, in der Bevölkerung unbekannt bleiben.
Wenn man sich manche Behördenschreiben anguckt, gewinnt man den Eindruck, es ist gar nicht gewollt, dass die Bürger durchblicken.
Helmut Schmidt hat schon vor 30 Jahren beklagt, dass er seine Gasrechnung nicht mehr versteht. Bei den heutigen Rentenbescheiden ist das nicht anders. Auch ich habe lange gebraucht, bis ich die Zahlenkolonnen und Computerausdrücke verstanden habe - obwohl ich Jura studiert habe.
Was folgern Sie daraus?
Es ist ein großes Problem, wenn Leute die Entscheidungen der Behörden nicht verstehen. Es geht ja oft um ihre Existenz. Immer wieder sagen Kläger in einer mündlichen Verhandlung: Wenn mir das schon vorher jemand so erklärt hätte, säße ich heute gar nicht hier.
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