piwik no script img

Montagsinterview"Neukölln hat den radikalsten Duft"

Sissel Tolaas kämpft für die Befreiung unserer Nasen. Die 46-Jährige ist als Duftforscherin, Künstlerin und Linguistin dem Zusammenhang von Geruch und Kommunikation auf der Spur.

Nichts für feine Nasen: Auf der Stadtautobahn dominieren die Abgase. Bild: dpa

taz: Frau Tolaas, Sie sind Duftforscherin und momentan erkältet. Können Sie mit verstopfter Nase überhaupt arbeiten?

Sissel Tolaas: Ach, das geht schon. Selbst mit verstopfter Nase rieche ich noch genug, um arbeiten zu können. Ich arbeite eigentlich immer, mit jedem Atemzug. Ich denke immerzu an Geruch, er ist meine Leidenschaft. Sogar im Schlaf rieche ich manchmal, obwohl das eigentlich nicht geht.

Vielleicht wollte Ihnen Ihre Nase sagen, dass Sie überarbeitet sind?

Gut möglich. Vielleicht sollte ich mir vom Arzt ein paar Viren besorgen. Die könnte ich mir spritzen, wenn ich mal eine Pause brauche.

Wäre es für Sie eine Erholung, nichts riechen zu müssen?

Nein, schließlich empfinde ich Geruch nicht als Belastung sondern als Bereicherung. Aber als Forscherin interessiert mich der Nullpunkt: Mein nächstes Projekt ist, den Geruch von nichts zu finden.

Geht das überhaupt? Alles riecht doch nach irgendetwas?

Das sagt man so schnell. Aber um nichts zu riechen, muss man nichts assoziieren. Kein Sinn ist so sehr mit Vorurteilen behaftet wie der Geruchssinn. Ich will zur Neutralität zurückfinden, die der Mensch von Geburt an hat. Wir werden geboren mit einer offenen Nase. Dann wird der Geruchssinn in Kategorien wie gut und schlecht gepresst. Das kann man aber reparieren. Ich bin das beste Beispiel, ich habe gelernt, vorurteilsfrei zu riechen.

Wie haben Sie es geschafft, Ihre Nase zu neutralisieren?

Das war ein harter Kampf. Ich habe in meinem Archiv rund 7.000 Gerüche. Angenehme habe ich so lange mit unangenehmen gepaart, bis ich alle akzeptieren konnte. Sieben Jahre dauerte das. Jetzt kann ich Gerüche aushalten, die für andere komplett unerträglich sind.

Gibt es für Sie keinen Gestank?

Es gibt Gerüche, auf die ich körperlich reagiere. Aber ich habe mir abtrainiert in Positiv-negativ-Schemata zu denken. Man verpasst dadurch so viel! Das ist einer der Gründe, warum ich Geruchsforscherin bin: um die Grenzen zu sprengen, die wir uns selbst mit der Nase setzen. Wenn man sich bewegen will im Leben, muss man die Nase frei machen.

Aber ist übler Geruch nicht auch ein natürliches Warnsignal bei Gefahr?

Oft aber auch nicht: Ich war in den USA, in einer Bibliothek. Ein Obdachloser kam herein und verströmte einen so intensiven Geruch, dass ich am Schluss die Einzige im Lesesaal war. Gefahr gab es keine, aber selbst ich kam an meine Grenze. Ich dachte: Wenn du das aushältst, schaffst du alles. Das ist Toleranz.

Sie meinen, die eigentliche Gefahr geht vom Geruchssinn aus?

Die Nase reagiert als einziger Sinn direkt auf Umweltsignale. Darin liegt auch eine Gefahr: Man fragt sich nicht, liegt es an seinem Körpergeruch oder seiner Herkunft, dass ich diesen Menschen nicht riechen kann. Man nimmt es einfach hin. Denn wir haben nie gelernt, unsere Nase zu benutzen. Warum gibt es in der Schule nicht das Fach Nase? Wir schulen die Augen und die Ohren, nur die Nase wird vernachlässigt. Dabei hat die Luft so viele Informationen!

Sie sind Chemikerin, Künstlerin und Linguistin, versuchen also auf vielen Wegen diese Informationen zu entschlüsseln. Wie kamen Sie auf den Geruch?

Über das Wetter. Ich bin in Norwegen und Island aufgewachsen, wo das Wetter Hauptgesprächsthema ist. In Island gibt es zum Beispiel viele Wörter für Regen. Doch für das Wetter gibt es die Kategorien gut oder schlecht. Ich fand das seltsam und fragte mich, ob da noch mehr ist. Ich begann Chemie zu studieren, erzeugte künstliche Unwetter, ich war fasziniert davon, durch Luft sichtbare Reaktionen hervorzurufen. Dabei entdeckte ich die Gerüche in der Luft. Sie waren für mich eine Objektwerdung des Unsichtbaren: etwas im Nichts.

Hat Sie das Flüchtige, beinahe Esoterische dieser Materie gereizt?

Es hat mich geärgert! Ich fand in der Neurologie, Chemie und Psychologie kaum konkrete Antworten. Da beschloss ich, selbst welche zu finden. Ich reiste mit meiner Nase um die Welt, sammelte Gegenstände in Vakuumschachteln und stellte sie zu Hause in einen Schrank, zusammen mit Notizen. Schließlich hatte ich 6.730 Gerüche, die ich im Labor nachbaute. Und zu jedem eine Geschichte. Aber unsere Sprache ist unzureichend für die Beschreibung von Gerüchen.

Daher die Linguistik?

Ich entwickle seit Jahren eine Sprache, die ich Nasalo nenne. Mehrere tausend Wörter gibt es schon, gerade arbeite ich an einem Wörterbuch. Kürzlich beschrieb ich für eine Kampagne ein Parfum auf Nasalo. Es war ein radikaler Text, ohne die Klischees, mit denen Parfums verkauft werden.

Sie wohnen unweit vom KaDeWe mit einer der größten Parfumabteilungen der Stadt. Gehen Sie dorthin?

Ich vermeide diesen Ort! Man wird zugekleistert mit einer Überdosis an Gerüchen ohne Kontext. Statt mich mit Parfum einzusprühen, komponiere ich Gerüche, die ich gezielt auf meinen natürlichen Körpergeruch setze. Je nach Lust und Laune, wie das Überziehen eines T-Shirts. Ich weiß, welchen Duft ich einsetzen muss, wenn ich traurig bin oder verführerisch wirken will.

Sie sind bekannt für radikale Experimente, so gingen Sie im Abendkleid ins Konzerthaus, rochen aber nach Angstschweiß. Provozieren Sie gerne?

Das war kein Spaß, sondern eine Feldforschung zur Identität. Meine Kleidung passte nicht zu meinem Geruch. Dass es der Schweiß eines männlichen Phobikers im Moment einer Angstattacke war, wussten die Leute nicht. Aber sie waren irritiert, Frauen wendeten sich ab, Männer waren eher interessiert. Reagiert haben alle.

Geruch ist auch eine Form sozialer Mimikry. Niemand will dadurch negativ auffallen. Kennen Sie diese Angst nicht?

Doch, aber ich akzeptiere sie nicht, denn sie beruht auf den Marketingzielgruppen der Parfumindustrie. Warum sollen wir alle weiß, mittelalt, mitteleuropäisch und nach Mittelschicht riechen? Mit meiner Aktion wollte ich sagen: Ihr kleidet euch teuer, um eure Besonderheit zu betonen, und besprüht euch alle mit demselben Zeug - das nennt ihr Individualität? Die Leute verstehen diese Botschaft in meinen Performances. Sie erkennen, dass ich ein Statement wage mit meinem Geruch. Auch wenn es extrem ist.

Sind Sie selbst so extrem?

Diskret auf etwas hinzuweisen, das ist nicht mein Weg. Keine Aktion, keine Reaktion, so ist es nun mal. Was andere von mir denken, war mir schon immer egal. Was gibt es schon zu verlieren?

Sie haben Ihre Umwelt stets infrage gestellt: Mit 16 beschlossen Sie, zur Großmutter zu ziehen. Zum Studium gingen Sie nach Leningrad und Warschau - mitten im Kalten Krieg. Woher kommt dieser Impuls?

Keine Ahnung, ich bin behütet als älteste von sechs Töchtern aufgewachsen. Aber ich wollte schon immer an scheinbaren Gewissheiten rütteln. Wenn ich heute erzähle, dass ich Duftforscherin bin, kommt jeder mit einer Kindheitserinnerung. Auch so ein Klischee. Als Kinder waren die Menschen offen für Gerüche. Aber die von gestern haben sie verdrängt. Das möchte ich ändern.

Können Sie sich selbst noch an Gerüche aus Ihrer Kindheit erinnern?

Klar, mein erstes Dreirad. Gleich am ersten Tag hatte ich damit einen Unfall, und das Rad fiel in den Kanal am Straßenrand. Keiner wollte es herausholen wegen des Gestanks. An den erinnere ich mich genau, zusammen mit dem Bild vom roten Rad in der braunen Kloake. Dann gab es den Laden, wo ich jeden Morgen Milch holte. Es roch nach alter Milch, und ich hasste Milch! Die Frau im Laden hieß Olga, noch heute mag ich den Namen nicht.

Privat erlauben Sie sich also Emotionen zu Gerüchen. Was riechen Sie besonders gerne?

Meine zehnjährige Tochter riecht fantastisch. Ich habe ihren Geruch reproduziert, er macht mich glücklich. Mein Labor ist für mich auch ein Himmel: Ich habe 2.500 Bausteine, mit denen ich komponieren kann. Für einen Freund habe ich den Duft von frisch geschnittenem Gras gemischt, den er im Berliner Winter vermisste. Es ist schön, andere glücklich zu machen, ich muss nicht immer provozieren.

Bei der Berlinbiennale 2004 stellten Sie das Parfum North South East West vor, das nach vier Berliner Bezirken roch. Zu welchem Zweck?

Die Gerüche aus Charlottenburg, Mitte, Neukölln und Reinickendorf konnte man einzeln riechen. Oder alle zusammen. Meine Botschaft war: Ihr riecht alle die gleiche Luft. Alles zusammen ist der Himmel über Berlin.

Und wie riecht der?

Die Stadt riecht jeden Tag anders, es gibt niemals die gleiche Konstellation von Molekülen in zwei verschiedenen Momenten. Aber man kann sagen, dass Neukölln den radikalsten, vielschichtigsten Duft hat: Kebab, Alkohol, Import-Export, Hundekacke, Polyester. Charlottenburg dagegen riecht nach Geld, Luxus und Langeweile. Ziemlich unterkomplex. In Reinickendorf riecht man Sonnenstudios und Hochhausbeton.

Und Mitte?

Wollen Sie mal riechen?

Gerne. - Riecht nach Tabak, Kaffee, Leder, Abgasen. Ganz gut eigentlich.

Der Duft ist schon etwas alt. Mittlerweile riecht es bestimmt anders. Aber ein Geruchsfundament bleibt immer. Als ich North East South West bei der Biennale zeigte, bestellte eine Frau bei mir ein Fläschchen Mitte. Sie hatte dort in den Zwanzigerjahren gelebt und erkannte manches wieder.

Sie wohnen seit 1987 in Berlin. Hat sich der Geruch der Stadt seitdem verändert?

Ja, damals roch es viel statischer, nach Kohleofen und Beton. Heute sind mehr Dimensionen zu riechen, besonders in der U-Bahn hat man die ganze Welt in der Nase. Nur an der Jannowitzbrücke hängt noch dieser Mauergeruch in der Luft, der hat irgendwie überdauert im Beton. Zumindest rieche ich ihn noch.

Sie haben hier Flakons, die mit Nasaloworten beschriftet sind. Was ist Gra?

Riechen Sie doch mal!

Igitt.

Das ist der Geruch eines Schlachthauses in Paris. - Und das sind alle Gerüche von Paris zusammen: Ich habe es Sirap Mon Amour genannt. Brot, Metzger, Hundekacke. Ich habe Paris zusammen mit Berlin, New York und London präsentiert. Beleidigt waren aber nur die Franzosen.

Sie sprachen vom Mauergeruch an der Jannowitzbrücke. Könnten Sie den Duft der DDR kreieren?

Aus meinen Archivbeständen könnte ich den ohne Probleme komponieren. Es wäre natürlich meine persönliche DDR-Impression. Aber Geruch ist immer subjektiv.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen

Mehr zum Thema

0 Kommentare

  • Noch keine Kommentare vorhanden.
    Starten Sie jetzt eine spannende Diskussion!