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Montagsinterview"Mit der türkischen Brille sieht man anders"

Auf seiner Website "ha-ber.net" liefert der studierte Germanist Hayati Boyacioglu Lokalnachrichten für aus der Türkei stammende Berliner - auf Türkisch. Nachrichten für die Parallelgesellschaft? Auf keinen Fall, sagt Boyacioglu. Er selbst sieht sich weder als Türke noch als Deutscher.

Hayati Boyacioglu

Istanbul-Berlin:

Hayati Boyacioglu wurde 1960 im damals wie heute modernen Istanbuler Stadtteil Beyoglu geboren. 1978 kam er als 17-Jähriger zum Studieren nach Berlin. Sein damaliger Traum war, Trickfilmer oder Karikaturist zu werden. Daraus wurden dann Germanistik, Publizistik und Erziehungswissenschaften.

Vorbild Wallraff:

Seine Magisterarbeit schrieb Boyacioglu über das Buch "Ganz unten", in dem der investigative Journalist Günter Wallraff die Lebenssituation der türkischen Gastarbeiter in Deutschland beschreibt. Wallraff ist bis heute eines seiner Vorbilder, denn "nah dran sein" sei ihm ebenso wichtig wie "Authentizität", sagt der leidenschaftliche Journalist.

"Berliner Synthese":

Der heute 47-jährige Boyacioglu ist nach seinem Studium "der Liebe wegen" in Deutschland geblieben. Mit seiner deutschen Ehefrau ist er seit fast 30 Jahren zusammen: "Ich habe Wurzeln geschlagen und bin Berliner geworden", sagt Boyacioglu. Er ist Vater von zwei Kindern von 9 und 22 Jahren, die zweisprachig aufgewachsen sind. Boyacioglu hofft, dass die junge Generation das Zusammenleben einmal besser hinkriegt als die jetzige.

taz: Herr Boyacioglu, Ihre Website ist eine Art Berliner Lokalzeitung im Netz - in türkischer Sprache. Was sind gerade Ihre Themen?

Hayati Boyacioglu: Wir berichten über eine neue Vereinigung zuckerkranker türkischer Migranten. Es gibt einen Text über die Kita-Kampagne der Grünen, und ich habe über den Abschied des langjährigen Vorsitzenden des türkischen Elternvereins, Ertekin Özcan, geschrieben. Über das Wochenende haben wir außerdem immer viele Sportberichte. An diesem Samstag hat uns aber die traurige Nachricht vom Krebstod des 24-jährigen Fußballers Ümit Tosun erreicht, deshalb kommen wir nicht so bunt und fröhlich daher wie sonst. Trotzdem haben unsere Berichte immer viele Bilder. Und jetzt werden die Hamburger Wahlen ein Thema für uns sein, das interessiert die Berliner Türken auch.

Ist die Schnittmenge von dem, was in den deutschsprachigen Lokalzeitungen steht, und dem, worüber Sie berichten, groß?

Nein, eher klein. Viele unserer Themen finden sich in den deutschen Zeitungen gar nicht. Wir haben aber vor allem einen anderen Blickwinkel.

Sie berichten anders als deutsche Medien?

Ja. Mit der türkischen Brille sieht man manches anders. Es gibt ein anderes Wir-Gefühl. Der Wahlkampf von Herrn Koch und die Unterstützung, die Frau Merkel ihm gegeben hat, wurden von vielen Türken als Angriff betrachtet. Da schreiben wir anders drüber als deutsche Medien. Aber auch anders als die türkischsprachigen Printmedien hier.

Worin besteht dieser Unterschied?

Die türkischen Printmedien hier sind überregional. Wir konzentrieren uns auf Berlin und sind mittendrin. Wenn es Probleme an Schulen gibt: Unsere Kinder gehen auch hier zur Schule. Wenn es eine Demonstration gibt, sind wir vor Ort. Wir sind authentischer als die türkischen Zeitungen. Und wir haben noch einen anderen Vorteil: Es gibt bei uns keine Zentralredaktion in Frankfurt oder Istanbul, die entscheidet, wie Themen gewichtet werden. Niemand dort kennt die Gegebenheiten hier. So kommt es zum Beispiel zu falschen Bildunterschriften in den türkischen Zeitungen: Keiner in den Redaktionen in Istanbul kennt die darauf Abgebildeten. Das passiert bei uns nicht.

Woher bekommen Sie Ihre Informationen?

Wir haben einen ziemlich großen Bekanntheitsgrad und bekommen so viele Informationen per Mail, dass wir gar nicht alle Themen behandeln können. Wir müssen sehr wählerisch sein - wir können ja bloß vier bis fünf Berichte am Tag machen. Wir sind ja ein Team von nur drei Leuten .

Sie bringen vier bis fünf neue Texte pro Tag?

Ja. Am Montag kommen dann noch die Texte unserer Kolumnisten dazu. Wir haben über zwanzig Kolumnisten aus verschiedenen Berufsfeldern, die regelmäßig zu aktuellen Themen für uns schreiben: Pädagogen, Psychologen, Berufsberater, Rechtsanwälte - alle türkischer Herkunft, die ihren persönlichen und professionellen Blick auf diese Themen werfen.

Alle Texte erscheinen nur in türkischer Sprache - eine virtuelle Parallelgesellschaft, von der deutschsprachige Leser ausgeschlossen sind?

Wir befriedigen mit der Website ein Bedürfnis, das da ist: ein Mitteilungs- und Informationsbedürfnis der hier lebenden Türken. Wir schaffen mit der Seite ja auch eine Kommunikationsmöglichkeit: Wir bekommen sowohl zu den Kolumnen wie auch zu unseren Berichten ganz viele Mails und Kommentare, es entspannen sich richtige Diskussionen und Debatten auf unserer Seite. Es kommen Menschen miteinander in Kontakt, die sich sonst gar nicht treffen würden, weil sie in verschiedenen Lebenswelten leben - auch wenn sie alle türkischer Herkunft sind. Von Parallelgesellschaft kann gar keine Rede sein.

Dennoch bleiben alle Leute von Ihrer Website ausgeschlossen, die die türkische Sprache nicht verstehen.

Ja, das ist ein türkischsprachiges Portal. Es gibt nun mal eine Sprache, die Türkisch heißt und die hier lebt und hier gesprochen wird. Aber wir schließen niemanden aus. Wir sind selber Deutsche. Und wir bekommen übrigens auch viele Mails in deutscher Sprache. Langfristig möchten wir aber gerne mehr deutschsprachige Texte anbieten. Derzeit schaffen wir das einfach nicht. Das hat viel mit Zeit und leider auch mit Geld zu tun.

Wie finanziert sich die Seite?

Über Anzeigen, vor allem von türkischen Firmen.

Viele Berichte drehen sich um Veranstaltungen innerhalb der türkischen Community, um ihre Vereine - man kann schon den Eindruck haben, dass das eine geschlossene Community ist.

Schon wieder die Parallelgesellschaft? Noch einmal: Die gibt es nicht. Wenn man in die Staatsoper geht, kann man in der vorderen Reihe zwei, drei Türken sitzen sehen. Am nächsten Imbiss stehen auch zwei, drei, und es gibt welche im Parlament, beim Arzt, im Knast, überall. Eine geschlossene Gesellschaft gibt es nicht. Aber unser gemeinsamer Nenner ist, dass wir Migranten aus der Türkei sind, die der türkischen Sprache mächtig sind, was hierzulande aber leider ein bisschen verloren geht. Deshalb möchten wir das gerne pflegen. Das hat mit Trennung oder Parallelgesellschaft aber überhaupt nichts zu tun.

Den Begriff mögen Sie nicht.

Nein, überhaupt nicht. Es kann sein, dass es so etwas gibt, aber das hat mit unserem Internetportal nichts zu tun. Wenn man das Internet als Medium in Anspruch nimmt, dann kann von Parallelgesellschaft eigentlich gar keine Rede mehr sein. Weil man so gut wie jeden erreichen kann.

Anders als in türkischen Zeitungen erscheinen auf Ihrer Seite türkische Migranten selten in der Opferrolle. Ist das eine bewusste Haltung?

Ja, das hat mit unserem Publikum zu tun. Nicht alle türkischen Migranten, die hier leben, sind potenzielle Leser der Hürriyet. Die Zeitungen müssen um ihre Leser kämpfen, und sie finden neue Leser vielleicht vor allem unter denen, die noch nicht lange hier sind und sich tatsächlich öfter in der Opferrolle erleben, weil sie hier noch nicht klarkommen, noch fremd sind. Wir machen das nicht. Wir sehen die türkischen Migranten nicht als Opfer und denken überhaupt nicht in Opfer-Täter-Kategorien. Klar ist man ab und zu mal Opfer, die Deutschen sind das genauso. Aber nur wir haben ein Opferfest!

Was denken Sie, wenn Sie sich die Berichterstattung über türkische Migranten in den deutschen Medien ansehen?

Dann bin ich erstaunt über die Naivität, die Desinformation, das Desinteresse und die Ahnungslosigkeit der Kollegen. Obwohl die Migranten bald seit 50 Jahren hier sind, haben viele in den deutschen Medien keine Ahnung von denen. Da werden immer wieder Dinge miteinander vermischt, die man nicht so einfach vermischen sollte.

Zum Beispiel?

Zum Beispiel, wenn man beim Thema Islam immer gleich auf den Terrorismus und dann auf die türkischen Migranten hier kommt. Es gibt so viel Positives zu berichten aus den 50 Jahren Migrationsgeschichte. Das kommt viel zu kurz.

Gibt es denn gar keine Verbesserung in den letzten Jahren?

Doch. Aber sehr langsam. Und manchmal gibt es Rückschritte - siehe den Wahlkampf von Roland Koch und die Berichterstattung über "kriminelle Ausländer". Da bekomme ich Gänsehaut.

Haben Sie gedacht, dass Koch die Wahl so gewinnen kann?

Hat er doch: Die CDU ist erste Partei geworden!

Sie hat 12 Prozent verloren.

Ich hätte gewünscht, dass er 20 Prozent verliert.

Die Berichterstattung über Migranten in den deutschen Medien konzentriert sich wirklich sehr auf Probleme. Aber die gibt es doch auch!

Ja. Aber was man übersieht, sind die Migranten, die seit Jahrzehnten hier leben und die den Umständen entsprechend unheimlich gut integriert sind. Es wurde doch jahrzehntelang für die Integration der Türken, die hierhergekommen sind, nichts getan. Man sagt oft, Integration ist keine Einbahnstraße. Ich möchte diese Zweibahnstraße mal sehen! Sehe ich aber nicht. Und diese ganze Auseinandersetzung um Integration geschieht fast ganz ohne Migranten! Es wird vor allem über sie gesprochen. Gut, es gibt ein paar, die gut sprechen und sich verkaufen können, die für die Migranten reden. Aber die vielen, die dabei nicht mitmachen wollen oder können, äußern sich bei uns.

Wie viele Mails und Kommentare bekommen Sie denn so?

Das hängt von der Wichtigkeit der Themen ab - und dabei täuschen wir uns auch ab und zu. Manchmal denken wir, ein Thema sei eine Lappalie - und dann haben wir hunderte von Mails dazu.

Zum Beispiel?

Vor kurzem ist ein Neunzehnjähriger Fußballtrainer geworden - das hatte ich als kleine Meldung gebracht. Da kamen über 40 Kommentare! Da haben wir an etwas gerührt, was die Leute bewegt. Gerade für die Jugendlichen war das offenbar sehr wichtig, Trainer war in dem Alter noch keiner. Darauf waren viele stolz und haben gratuliert. Oder ein ganz aktuelles Beispiel: Aydin Akin, das ist ein türkischer Aktivist, den sicher auch viele deutsche Berliner kennen: Er fährt jeden Tag mit Plakaten um den Hals auf seinem Fahrrad durch die Stadt: "Auch wir sind Menschen" steht da drauf oder "Europa, schäm dich!". Jetzt ist er an Krebs erkrankt, und hat uns darüber geschrieben, er ist auch einer unserer Kolumnisten. Ich habe erst überlegt, ob ich das überhaupt veröffentlichen soll, das ist ja sehr privat. Ich habe mich dafür entschieden, und jetzt bekommt er viele Mails von überall her, die ihm Mut zusprechen. Wir haben nicht gewusst, dass er so bekannt und so beliebt ist.

Es scheint ein großes Bedürfnis nach Vorbildfiguren zu geben.

Ja. Weil diese positiven Identifikationsfiguren von der deutschen Gesellschaft ignoriert werden. Wenn du das ständig ignorierst und mir immer nur meine Macken, meine Ecken, meine Defizite vorhältst und mich als Migranten, als Parallelgesellschaft, in die Ecke treibst, dann entstehen solche Bedürfnisse: nach schönen Seiten, Vorbildern.

Sie haben in Deutschland Germanistik studiert - hat es Sie nie gereizt, selbst mal bei einem deutschen Medium zu arbeiten?

Nein! Doch. Teils, teils.

Aha.

Erstens fühle ich mich in der türkischen Sprache mehr zu Hause als in der deutschen. Und auch in der türkischen Medienlandschaft. Außerdem glaube ich, dass ich dort als Fremder, eben als Türke, behandelt würde: "Mach du mal die türkischen Themen, du hast ja Ahnung." Dazu habe ich aber keine Lust. Ich möchte über alles schreiben.

Sie sagten, Sie würden sich bei einer deutschen Zeitung als Fremdkörper fühlen. Sie sind seit 30 Jahren in Deutschland. Fühlen Sie sich hier als Fremdkörper?

Nein, nein, nein! Ich fühle mich privilegiert: weder deutsch noch türkisch. Das wäre eine Einschränkung für mich! Warum sollte ich mich als Deutscher oder als Türke fühlen? Das spielt alles keine Rolle. Ich kann sehr gut Deutsch, ich kann sehr gut Türkisch, meine Kinder können drei oder vier Sprachen. Was gibt es Besseres? Warum sollte ich mich wie ein Deutscher fühlen? Wie fühlen sich denn die Deutschen überhaupt?

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