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Mondsüchtig

Vor einer Kirche in Berlin treffen sich jeden Tag zur selben Zeit Nachbar:innen, um gemeinsam ein einziges Lied zu singen. Bei Regen, bei Sturm. Über ein Ritual, und was es bedeutet

Jeden Abend um 19 Uhr geht über Wilmersdorf der Mond auf

Aus Berlin Leonie Gubela (Text) und Jens Gyarmaty (Fotos)

Der Mond hat seinen ganz eigenen Rhythmus. Ist Neumond, dann steht er schon morgens am Himmel, bloß kann ihn keiner sehen. Zunehmender Mond geht zur Mittagszeit auf, abnehmender Mond etwa um Mitternacht. Nur der Vollmond schiebt sich tatsächlich dann in unser Sichtfeld, wenn die Sonne verschwindet. In der Abenddämmerung. Überall auf der Welt ist das so. Außer auf dem Vorplatz der evangelischen Kirche am Hohenzollernplatz im Berliner Stadtteil Wilmersdorf. Hier geht der Mond seit fünf Jahren jeden Tag um Punkt 19 Uhr auf. Und daran wird auch nicht gerüttelt.

Das 1.904. Mal

Bevor der Mond aufgehen kann, muss Jörg Geerdts an diesem Mittwochabend im Juni aber noch kurz den blühenden Goldregen fotografieren. Er fummelt sein Handy aus der Jackentasche, was gar nicht so einfach ist, weil der 89-Jährige in beiden Händen einen Walkingstock hält. Wie jedes Jahr im Frühsommer leuchtet das Gewächs auf einem der Balkone neben der Kirche spektakulär. Während Jörg Geerdts fotografiert, baut Heidi Krickeberg ihre Flöte zusammen, Josef Ober unterhält sich mit Ingrid Lippert, Klaus Horlitz stellt sein Fahrrad ab, Dagmar Eichler-Röben und ihr Mann Ralf kommen mit Klarinette und Tuba um die Ecke, Erika Kube begrüßt Erika Pfaffenberg.

„Noch zwei Minuten“, ruft Jörg Geerdts über die Gespräche um sich herum hinweg, die Art und Weise seiner Ansage verrät, dass er die meiste Zeit seines Lebens Lehrer war. Die Gruppe stellt sich auf zu einem Kreis, die Sonne scheint, Kinder springen von den Treppenstufen der Kirche. „Noch eine Minute“, ruft er dann, Heidi Krickeberg macht schon mal ein paar Probe-Flötentöne und alle werden ein bisschen leiser. „Die letzte Minute hat mehr Sekunden“, sagt Erika Kube in die beginnende Stille hinein, zustimmendes Lachen. „NEUN-zehn Uhr“, ruft Jörg Geerdts. Und dann geht über Wilmersdorf der Mond auf.

Als die Pandemie sich noch sehr unwirklich anfühlte und man gerade erst zu begreifen begann, was überhaupt los war, da hängten Menschen für einen kurzen Zeitraum Plakate in die Fenster, trommelten auf Kochtöpfe, fanden sich zu digitalen Flashmobs zusammen. Kurz das Gefühl haben, dass man nicht alleine alleine ist, sondern alle anderen auch. Die Evangelische Kirche in Deutschland (EKD) schlug ihren Gemeinden damals vor, um 19 Uhr auf den Balkon rauszugehen und gemeinsam „Der Mond ist aufgegangen“ zu singen. Sieben Strophen, vier Minuten. Eine einmalige Sache sollte das sein. War es für die meisten Gemeinden dieses Landes auch. Doch die Nachbarschaft der Kirche am Hohenzollernplatz stellte sich nicht nur auf die Balkone, sondern vereinzelt auch auf den Kirchvorplatz. Sie tat das erstmals am 18. März 2020. Und am 19., 20. und 21. auch. Es wurde April, es wurde Mai, es wurde Herbst und Winter. Es wurde windig, es wurde kalt. Es wurde 2021, 2022, 2023. Es wurde 2024 und von der Pandemie sprach niemand mehr. Es wurde 2025. Und die Menschen vor der Kirche am Hohenzollernplatz singen immer noch.

Das 1.939. Mal

„Eintausendneunhundertneununddreißig“, sagt Jörg Geerdts, klemmt sich einen seiner Walkingstöcke unter den Arm und zeigt die große Ziffer auf seinem Handydisplay. Seine Frau hat ihm eine Zähler-App fürs Mondsingen eingerichtet. Das „Mondsingen“, wie es hier alle nennen, ist zwar längst Routine geworden, aber stolz ist man trotzdem. Geerdts gehört zu den Sängern der ersten Stunde, als es losging war er noch Mitte 80, jetzt ist er bald 90. „Geboren im Wedding, mit Pankewasser getauft.“ Im Portemonnaie hat er immer ein paar Liedzettel dabei, für Passant:innen, die sich spontan anschließen möchten. Manchmal passiert das. Luftlinie wohnt er etwa einen Kilometer von der Kirche am Hohenzollernplatz entfernt, ist aber nicht mehr so gut zu Fuß und nimmt täglich den Bus. Halbe Stunde hin, halbe Stunde zurück. Für vier Minuten singen. „Eine abendfüllende Veranstaltung“, sagt er. Geerdts ist derjenige, der die Uhr im Blick behält, er ist auch derjenige, der nach dem Ende des Lieds einen kurzen Dank ausspricht. Aber nur kurz. Denn er muss ja zum Bus.

Doch wenn man ihn fragt, wer hier der Chef ist, dann zeigt er auf Josef Ober, wohnhaft nördlich der Kirche am Hohenzollernplatz, 68 Jahre alt, Organist. Der Josef sei nämlich noch viel häufiger da als er. Josef Ober schüttelt nur den Kopf, deutet auf Heidi Krickeberg, die Flötenspielerin. „Ich? Die Chefin? Ja keine Spur!“, ruft Krickeberg mit ihrer rauen, hohen Stimme. „Wir sind alle gleichberechtigt“, sagt die mit 93 Jahren Gruppenälteste, geboren und aufgewachsen in Leipzig, ehemalige Englisch- und Musiklehrerin. Krickeberg bläst in die Flöte: „Merkt euch den Ton schon mal“, sagt sie. „Noch DREI Minuten!“, ruft Jörg Geerdts.

Wenn die Gruppe singt, dann tut sie das nicht besonders andächtig oder gar mehrstimmig. Sondern eher so, wie man eine tägliche Aufgabe verrichtet, die man zwar gerne macht, aber halt zum 1.939. Mal. Ordentlich, mit mäßiger Leidenschaft. Manche schauen durch die Gegend, andere in den noch viel zu hellen Himmel. Einen Liedtext braucht hier niemand mehr. Nicht weit entfernt rauscht der Hohenzollerndamm, eine der Hauptverkehrsachsen des Viertels. Nicht selten wird die Gruppe von einem Martinshorn übertönt.

Während sich Abend für Abend alles um den Mond dreht, glitzert die Kirche hinter den Sän­ge­r:in­nen in der untergehenden Sonne. Das Bauwerk ist wuchtig, aus Backstein, und wirkt, als könnte man darin auch gut Getreide speichern. „Kraftwerk Gottes“ wurde die Kirche am Hohenzollernplatz nach ihrer Errichtung Anfang der Dreißigerjahre oft genannt, der Industriecharme kam nicht bei allen gut an. Im Vorbeigehen wirkt sie düster, doch wenn man genau hinschaut, sieht man die schimmernden goldenen Steinchen rund ums Portal.

Links neben der Kirche liegt eine kleine Hundewiese, daneben ein Brunnen mit Delfin-Statue, in dem die Hunde an diesem heißen Julitag baden gehen. Um die Ecke ist der Laden einer Frau, die Hüte macht, die Werkstatt eines Mannes, der Schuhe macht, es gibt einen Metzger, einen Käseladen, einen Biobäcker, viele Boutiquen. Die Menschen, die hier leben, sind eher bürgerlich, eher älter, oft alleinstehend. Der Ku’damm ist zwar fußläufig, das mondäne Charlottenburg fühlt sich trotzdem weit weg an. Man kennt sich, man grüßt sich. Jeder hier weiß: Mittwochs und samstags ist Wochenmarkt. Und jeden Tag um 19 Uhr fangen die Leute vor der Kirche wieder an zu singen.

Nach Ende der siebten Strophe gibt es wie immer Applaus, Jörg Geerdts spricht seine Schlussworte. „Liebe Dagmar, liebe Heidi, lieber Ralf, vielen Dank für eure Blaserei. Allen Sängerinnen und Sängern, danke für eure kräftigen Stimmen. Ich hoffe, ihr habt alle einen guten Heimweg, wir sehen uns morgen bei guter Stimmung und toller Gesundheit wieder. Und bei tollem Wetter! Und nachts sollte es für die Pflanzen endlich mal wieder ein bisschen Regen geben. Kommt gut nach Hause! Danke!“ Dann dreht er sich um und läuft mit Käppi und gelber Warnweste Richtung Haltestelle.

„Ich kann überhaupt nicht singen, deswegen hab ich ziemlich schnell gefragt, ob’s okay ist, wenn ich Klarinette spiele“, erzählt Dagmar Eichler-Röben. Sie wohnt mit ihrem Mann Ralf, dem Tubaspieler, ganz in der Nähe der Kirche. Im Frühjahr 2020 beobachtete sie vom Balkon aus, dass die Leute immer wieder auf den Kirchvorplatz zurückkehrten. „Und da hab ich mich aus Neugier mal dazugestellt“, sagt sie. Erst übers Mondsingen sei sie, eine „nicht getaufte bekennende Nicht-Christin“, an die Kirche herangerückt, gehe seit einiger Zeit mittwochs vorm Singen zum Bibelgespräch, das sie gar nicht unbedingt als kirchliche Veranstaltung wahrnehme. Das Mondsingen sei für sie „ein kleiner Mosaikstein gelebte Gemeinschaft, zehn Minuten, die man so voneinander mitbekommt. Ein Aufeinandergucken, ein Aufeinanderachten.“

Für die einen sind es zehn Minuten, wieder andere treffen sich zum ­Quatschen schon ab halb sieben am Delfin-Brunnen und setzen sich im Anschluss wieder dorthin. Und dann gibt es noch diejenigen, die erst um 18.59 Uhr herangeschlendert kommen, einen guten Abend wünschen, den Mond besingen und ohne weiteren Smalltalk davonziehen. Mal sind sie auf dem Kirchvorplatz zu fünft, mal zu fünfzehnt.

Während die meisten Menschen in der Pandemie ihre sozialen Routinen verloren, ist hier eine entstanden. Singen ist ein Stimmungsaufheller, der besonders wirksam ist, wenn man es als Gruppe tut. Dann werden Endorphine, Dopamin und das Bindungshormon Oxytocin ausgeschüttet – ein ähnlicher Effekt, als würde man miteinander kuscheln. Vor ein paar Jahren fanden Forschende sogar heraus, dass die Herzen von Chormitgliedern beim Singen im selben Takt schlagen.

Es gibt viele Studien dazu, wie einsam uns die Pandemie gemacht hat, junge und alte Leute traf sie besonders hart. Das Mondlied wurde für die Sän­ge­r:in­nen zum Lichtblick, zum Abendgebet und zu einem kleinen Stück Selbstbehauptung, denn so richtig legal war das zeitweise ja nicht.

Heute muss sich niemand mehr Sorgen machen, wenn rund um die Kirche zufällig mal ein Polizeiauto hält. Der Nervenkitzelfaktor vom Anfang ist verflogen, dafür gibt es nun feste Strukturen. Die Sän­ge­r:in­nen haben eine gemeinsame Whatsapp-Gruppe, eine Telefonliste. Wer länger ausfällt, sagt Bescheid. „Sonst ruft man halt mal an und fragt, ob alles in Ordnung ist“, sagt Dagmar Eichler-Röben. Aber das sei alles auf einem „sehr niedrigschwelligen Level“, niemand müsse sich dafür rechtfertigen, nicht mehr kommen zu wollen. Die Sän­ge­r:in­nen sind fast alle zwischen Mitte 60 und Mitte 90, und wenn die Gruppe beobachte, dass jemand unter ihnen stark abbaue, vielleicht besser nicht mehr alleine wohnen sollte, dann würden auch schon mal Hebel in Bewegung gesetzt. „Dann versuchen wir, die Kinder zu kontaktieren, die ja oft ganz woanders leben.“ Einer Nachbarin habe man so beispielsweise einen Platz in einer Demenz-WG verschafft. Eichler-Röben besucht sie immer noch regelmäßig.

Als sie vor ein paar Jahren angeregt habe, das Mondsingen offiziell zu beenden, damit es nicht so ausläppere, habe es einen „regelrechten Aufschrei“ gegeben, erzählt sie. „Viele hier leben alleine, und da ist das einfach ein sehr wichtiges Abendritual geworden“, sagt sie. Sie und ihr Mann, beide 71 Jahre alt und in verschiedenen Vereinen aktiv, hätten auch noch andere Termine unter der Woche, manchmal müsse sie sich ziemlich disziplinieren, rechtzeitig da zu sein. „Da hab ich mich auch schon mal gefragt, warum ich das eigentlich mache“, sagt sie und lacht. Die meiste Zeit mache sie aber einfach. Denn anders als viele der anderen Sän­ge­r:in­nen müsse sie quasi nur aus ihrem Haus herausfallen, um am Kirchplatz zu sein. Was soll Jörg Geerdts denn sagen, der für den Mond seinen halben Abend drangibt?

Das 1.951. Mal

21. Juli, es regnet in Strömen, das Handy sagt „schwere Unwetterwarnung“, der Himmel ist dunkelgrau. Niemand draußen, aber wenn man genau hinschaut, stehen unter dem Kirchenvordach drei Menschen in bunter Funktionskleidung dicht zusammen. Dagmar Eichler-Röben, Josef Ober und Erika Kube warten gemeinsam, dass es 19 Uhr wird. Ihre Klarinette hat Eichler-Röben heute zu Hause gelassen, und weil Heidi Krickeberg mit ihrer Flöte fehlt, um den Ton anzugeben, hat Josef Ober eine Stimmgabel dabei. „19 Uhr“, sagt Erika Kube, lockiges graues Haar, ganz in Grün gekleidet. Sie wohnt am Prager Platz, ist „Berlinerin durch und durch“. Geboren in Weißensee, groß geworden im Prenzlauer Berg. Kube habe noch nie erlebt, dass keiner zum Singen gekommen wäre, erzählt sie auf ihrem Weg nach Hause. „Und manchmal, wenn alle denken, jetzt kommt keiner mehr, dann komm ich.“ Für sie bedeute das Mondsingen Verbundenheit. „Wenn alle immer sagen: ‚Oooch, ich bin so einsam, oooch, ich hab niemanden‘ – das kann ich eigentlich nicht sagen.“

Sie sangen das Mondlied erstmals am 18. März 2020. Es wurde 2021, 2022, 2023, 2024, 2025 – und sie tun es immer noch

Das 1.953. Mal

Der Mittwoch drauf, Erika Kube ist nicht da. Dafür aber Erika Pfaffenberg. Und Heidi Krickeberg mit der Flöte. „Heidi und ich machen oft noch’ne kleine Haltestelle“, sagt Pfaffenberg und lädt ein, mitzukommen. Manchmal ist es die Kneipe um die Ecke, manchmal die Bank am Delfin-Brunnen. Heute ist es die Bank am Delfin-Brunnen. Pfaffenberg, die immer Rock und Blazer trägt, ist in der Kirche am Hohenzollernplatz getauft, ihre Eltern sind dort getraut worden. Ihr ganzes Leben lebt sie auf der Uhlandstraße, umgezogen ist sie nur einmal, „von der vierten in die dritte Etage“. Wie alt sie sei? „Nicht mehr im Teenageralter, sagen wir so.“ Pfaffenberg ist 82. Bis zu ihrer Wohnung sind es 70 Stufen, und seitdem sie einmal versuchte, die falsche Tür aufzuschließen, zählt sie immer mit. Oft müsse sie sich aufraffen, nochmal rauszugehen. „Aber da freu ich mich eben, dass ich diesen Zwang habe. Wenn das nicht wäre, würde ich sagen: Ach nee, brauchste nicht.“

Neben ihr schiebt die 93-jährige Heidi Krickeberg ihr Rad. „Ich bin beinahe mit dem Fahrrad geboren“, sagt sie. „Früher jeden Tag fünf Kilometer zur Schule hin und zurück im Erzgebirge.“ Durch das Mondsingen hätten ihre Tage „ein Ziel irgendwie, eine Abrundung“. Und es sei so ungezwungen. „Man kann kommen und man kann wegbleiben.“ Aber wenn Heidi Krickeberg unentschuldigt fehlen würde, sagt Erika Pfaffenberg, „dann würde ich auf jeden Fall noch am selben Abend anrufen“.

Erika Pfaffenberg und Heidi Krickeberg haben sich erst beim Mondsingen kennengelernt, dabei gehen sie seit Jahren in denselben Gottesdienst. Die Gemeinde sei „mächtig am bröckeln“, sagt Pfaffenberg, manchmal könne sie mit nur einem Blick erfassen, wie viele Leute ungefähr in den Kirchenreihen säßen. „Das geht mir schon sehr nah.“ Beim Mondsingen jedenfalls habe sie ein stärkeres Zugehörigkeitsgefühl. Und überhaupt spreche sie das Lied auf so vielen Ebenen an. Es begleite sie seit klein auf, sie habe es schon im Kindergarten gesungen. Und jetzt als alte Frau. „Alles ändert sich, ständig gibt es irgendwas neues, aber das Lied bleibt immer.“

Das Mondlied heißt eigentlich Abendlied, veröffentlicht 1779 vom deutschen Dichter Matthias Claudius, vertont von Johann Abraham Peter Schulz. Die ersten drei Zeilen kennt jedes Kind, (Der Mond ist aufgegangen / die goldnen Sternlein prangen / am Himmel hell und klar) sie läuten die Schlafenszeit ein, der schaukelnde Rhythmus macht es zum perfekten Wiegenlied. Dass es dann aber noch sechs Strophen bis zum Zubettgehen dauert, wissen die wenigsten. Dazwischen: Naturbeobachtungen (und aus den Wiesen steiget / der weiße Nebel wunderbar), protestantische Demut (Wir stolzen Menschenkinder / sind eitel arme Sünder / und wissen gar nicht viel), und gar nicht so schlafliedtaugliche Grübeleien (Wollst endlich sonder Grämen / aus dieser Welt uns nehmen / durch einen sanften Tod).

Der Text habe für sie durch die vergangenen Jahre eine „neue Innerlichkeit“ bekommen, sagt Erika Pfaffenberg. „Ich lese ihn jetzt so richtig mit der Birne“, sagt sie. Insbesondere die letzte Strophe.

So legt euch denn, ihr Brüder,

in Gottes Namen nieder;

kalt ist der Abendhauch.

Verschon uns, Gott, mit Strafen

Heidi Krickeberg ist mit 93 Jahren die Gruppenälteste. Sie gibt den Ton vor

und lass uns ruhig schlafen.

Und unsern kranken Nachbarn auch!

„Und unsern kranken Nachbarn auch!“, sagt Pfaffenberg. „Ich denk dann, ach ja, der schnieft ja wieder ganz schön rum.“ Sie gehe beim Singen manchmal ihr gesamtes Haus durch. Das, in dem sie ihr ganzes Leben lebt. Wen hat sie schon länger nicht gesehen? Wer hat eine Rotznase? Früher habe sie genau gewusst, wer im Vorderhaus, im Seitenflügel, im Gartenhaus wohne. Durch den fehlenden Wohlstand sei man viel stärker miteinander verbunden gewesen, da habe man sich mal vom Nachbarn eine Kartoffel geholt. Pfaffenbergs Vater kehrte aus dem Krieg nie heim, es waren harte Jahre, für sie, die Mutter, die zwei Geschwister. „Das war einfach eine andere Beziehung innerhalb des Hauses, wir waren aufeinander angewiesen. Heute macht jeder sein Ding“, sagt sie. „Und das ist auch in Ordnung.“

Die Fluktuation in ihrem Haus sei viel höher als früher, sagt Erika Pfaffenberg. „Aber beim Mondsingen sind wir immer dieselben. Und so machen wir dann deutlich: Wir gehören zusammen.“ Das Mondlied zwinge sie jeden Tag aufs Neue, nicht nur das Haus zu verlassen, sondern auch mal in den Himmel zu schauen. Oder auf die anderen Sängerinnen und Sänger. Mal weg von sich.

„Es ist schon eine erstaunliche Hartnäckigkeit“, sagt Marita Lersner über die Sän­ge­r:in­nen und muss lächeln. Sie ist 53 Jahre alt und eine von zwei Pfarrerinnen der Gemeinde. Sie sitzt in einem Sessel im Gemeindehaus, überlegt kurz, sagt dann: „Aber diese Hartnäckigkeit hat ja eine christliche Tradition.“ Man hinterfrage ja auch im Klösterlichen nicht, ob man jetzt heute Lust habe, beten zu gehen, man gehe eben beten, weil man beten gehe. „Und da ist eine Weisheit drin“, sagt sie. „Sich nicht immer zu fragen, ob man Lust hat.“ Das Mondsingen, bei dem sie jeden Mittwoch mitmacht, entspricht ihrer Vorstellung von dem, was gelebte Gemeinde sein kann, sein sollte: Beziehung und Vernetzung. „Das ist sicher eine wichtige Aufgabe, die wir haben als Kirche“, sagt sie. Einsamkeit sei für sie ein Kernthema, wann immer Menschen sich an sie wenden würden, auf der Suche nach Kontakt, empfehle sie auch das Mondsingen. Ja, die abnehmenden Kirchenmitgliedschaften könne sie nicht leugnen, sagt Lersner. Umso schöner, wenn Dinge wie das Mondsingen entstünden, die man nicht planen kann: „Wenn etwas von alleine weiterwächst, weil es einfach richtig gut ist.“

Das 1.954. Mal

Der Juli neigt sich dem Ende zu. „Bleiben Sie stehen, der Mond geht gleich auf“, ruft Erika Pfaffenberg einer Gruppe Menschen hinterher, die die Treppe der Kirche herunterkommen. Die Leute drehen sich kurz um, blicken irritiert, gehen weiter. „Pf“, macht Pfaffenberg. Dagmar Eichler-Röben fragt nach Erika Kube, die jetzt schon zum zweiten Mal hintereinander nicht gekommen ist, und kündigt an, da mal nachzuspüren. Josef Ober hat nachgerechnet: Am 8. September singen sie zum 2.000. Mal. „Könnt ihr euch schon mal merken. Und jetzt Jörg: Walte deines Amtes.“

„Noch DREI Minuten!“, sagt Jörg Geerdts.

Wenn alle immer sagen: ‚Oooch, ich bin so einsam, oooch, ich hab niemanden‘ – das kann ich eigentlich nicht sagen

Erika Kube, Mondsängerin

Ob es eigentlich schon mal Anträge gegeben hat, was anderes zu singen? Natürlich, die habe es immer wieder gegeben, erzählt die Runde. Aber man habe die sieben Strophen doch so mühsam in den Kopf gekriegt.

„Noch ZWO Minuten“, sagt Jörg Geerdts.

Außerdem passiere doch jedes Jahr, jede Woche, ach jeden Tag, etwas neues Schlimmes. Daher halte man am Mondlied fest.

„Noch EI-NE Minute“, sagt Jörg Geerdts.

Da habe man zumindest eine Sache, die immer gleich bleibe.

„NEUN-zehn Uhr!“

Das 1.957. Mal

Sonntag. Dagmar Eichler-Röben, die Klarinettenspielerin, ist froh, dass es abends noch hell ist. „Aber du findest die Tasten doch auch im Dunkeln“, sagt Erika Pfaffenberg.

Jörg Geerdts kommt mit dem Bus. Halbe Stunde hin, halbe Stunde zurück

„NEUN-zehn Uhr!“

Das 1.958. Mal

Montag. „Heidi, du bist wirklich unsere treueste Seele, dich kann man nur bewundern“, sagt jemand zu Heidi Krickeberg. Krickeberg lacht, macht eine wegwischende Handbewegung. „Ach was!“

„NEUN-zehn Uhr!“

Das 1.959. Mal

Dienstag. Kurz vor 19 Uhr auf der Bank am Delfin-Brunnen, Erika Pfaffenberg dreht den Kopf zu den Sängerinnen neben sich: „Na, wir müssen bald den Po heben,’ne?“

Ein paar Minuten später, vor der Kirche: Jörg Geerdts ist nicht da, alle anderen gleichen ihre Uhren miteinander ab. „Wenn Jörg nicht da ist, brauchen wir es ja vielleicht nicht so genau nehmen“, sagt Ralf Röben mit der Tuba. Gelächter.

Rituale braucht es, um miteinander auszukommen

Jörg Geerdts, Mondsänger

„Es müsste jetzt 19 Uhr sein“, sagt jemand.

Das 1.960. Mal

Mittwoch. Jörg Geerdts ist wieder da. Erika Kube auch, sie war krank. Ja, die Dagmar habe bei ihr angerufen und gefragt, ob alles okay sei. „Ist ja auch ganz schön, wenn man vermisst wird“, sagt sie.

„NEUN-zehn Uhr!“

Das 1.961. Mal

Donnerstag. „Liebe Heidi, vielen, vielen herzlichen Dank für deine Flötentöne. Allen Sängerinnen und Sängern, vielen Dank für eure kräftigen Stimmen. Ich wünsche euch einen wunderschönen Abend noch. Morgen bin ich nicht hier, da bin ich bei einer ehemaligen Kollegin zum Geburtstag“, sagt Jörg Geerdts.

„Dann singst du unser Lied statt hier hoffentlich dort“, sagt Erika Kube und alle lachen.

Die evangelische Kirche am Hohenzollernplatz in Berlin-Wilmersdorf

Unwahrscheinlich ist das nicht.

Am Vormittag des 1.983. Mals

„Wenn Jörg mal nicht dabei sein kann, dann ruft er hier Zuhause um 19 Uhr laut 19 Uhr“, sagt Sylvia Geerdts. Wenn die Balkontür auf ist, frage sie sich manchmal, was die Nachbarn denken. Geerdts sitzt ihrem Mann in der hellen Dachgeschosswohnung an der Berliner Straße am Esstisch gegenüber, es ist ein Freitagvormittag im August. Beschwert habe sich aber noch keiner, anders als damals, 2020, in den ersten Wochen auf dem Kirchvorplatz. „Wenn da jemand jeden Abend die Uhrzeit brüllt und dann kommt noch eine Tuba dazu.“ Sie lacht. Sie verstehe, dass da manche Anwohner etwas irritiert gewesen seien. Und es sei ja auch eine eigenartige Sache, dass sich diese Gruppe von Menschen so zusammengefunden habe. „Aber ich habe recht schnell verstanden, okay, das ist wichtig. Die brauchen sich da.“

Sylvia Geerdts muss es wissen – die 76-Jährige arbeitet viel mit Se­nio­r:in­nen zusammen, organisiert Erzählcafés und kleine Wanderungen, kocht regelmäßig für alleinstehende alte Leute. Zum Singen schafft sie es nur sehr selten. Sie und ihr Mann bringen Menschen zusammen, das haben sie immer schon gemacht. Rituale sind ihnen wichtig, „die braucht es, um miteinander auszukommen“, sagt Jörg Geerdts. Nicht infrage stellen, dass es um Punkt 19 Uhr mit dem Mond losgeht beispielsweise, auch wenn’s einem schon mal besser ging. Nicht infrage stellen, dass man sich am 9. November am Brandenburger Tor trifft, vor dem Raum der Stille. Oder am 2. Mai bei den Geerdts zu Hause im Wohnzimmer. Diese Termine sind ihnen heilig.

Am 9. November 1989 fiel die Mauer, 14 Jahre früher, am 2. Mai 1975 floh Jörg Geerdts mit seiner damaligen Frau und der gemeinsamen Tochter im Kofferraum eines amerikanischen Soldaten in den Westen.

Mal sind sie zu fünft, mal zu fünfzehnt

„Wir treffen uns und erzählen uns das immer wieder, damit diese Geschichten nicht verlorengehen“, sagt Sylvia Geerdts. „Und damit auch wir selbst nicht vergessen.“

Frühjahr 1975

Als Lehrer in Ostberlin eckt Jörg Geerdts immer wieder an, sagt seine Meinung, tritt in keine der Parteiorganisationen ein, weigert sich, mit seinen Schü­le­r:in­nen an Demonstrationen teilzunehmen. Er wird strafversetzt, man droht ihm mit Kündigung, ständig hospitiert jemand von der Kreisleitung in seinen Stunden. Seine Stasiakte hat 1.300 Seiten.

Als seine Tochter trotz sehr guten Notendurchschnitts nicht zur Uni zugelassen wird, beginnt er, die gemeinsame Flucht vorzubereiten. Über Bekannte kommt Jörg Geerdts mit Fluchthelfern in Kontakt. Deren Dienste sind teuer, ein Freund in Westberlin bürgt bei der Bank für einen Kredit über 100.000 DM.

Am 2. Mai 1975, es sind noch Frühjahrsferien, steigt die Familie in Berlin-Weißensee auf einer verlassenen Straße neben einem Friedhof in den Kofferraum eines GIs. Es ist sein Privatauto, ein Opel Kapitän. Es ist eng. Am Checkpoint Charlie klopft Geerdts Herz so laut, „dass ich dachte, das ganze Auto wackelt“, erzählt er. Der GI passiert die Grenze, lässt die Familie an der Kongresshalle im Tiergarten raus. Sie sind in Westberlin, sie sind frei und hochverschuldet.

Noch vor den Sommerferien findet er eine Anstellung, erst in einer Grundschule, dann an einer neugegründeten Oberschule in Charlottenburg. Er ist Mathe- und Chemielehrer, wird Fachbereichsleiter. Insgesamt 47 Jahre wird er vor einer Klasse stehen, zuletzt als Gesamtschulrektor. Bis zu seinem 80. Lebensjahr arbeitet er noch als Therapeut für Dyskalkulie. Mit seinen Schülern spricht er immer wieder über die DDR, macht nach dem Mauerfall mit ihnen Ausflüge in die Ostbezirke, zeigt ihnen das Gefängnis in Hohenschönhausen.

Jeden Abend um 19 Uhr geht über Berlin-Wilmersdorf der Mond auf

Jedes Jahr am 9. November treffen sich die Geerdts mit Freunden am Brandenburger Tor, trinken einen Sekt. Am 2. Mai, dem Tag der Flucht, laden sie irgendwohin ein. „Wir waren schon 50, wir waren aber auch nur 5.“ Es ist wie beim Mondsingen. Hauptsache, man kommt zusammen.

Das 2.000. Mal

Ausgerechnet. Jörg Geerdts ist nicht da. Alle Busse: ausgefallen. Die Stimmung: etwas geknickt. Ein bisschen feierlicher als sonst wird es dann aber doch noch. Ein Nachbar, der nur noch selten kommt, ist mit seiner Mundharmonika dabei. In der letzten Strophe hört er auf zu spielen, singt ganz andächtig die zweite Stimme. „… und uuunserm kraaaank-en Nach-baaarn auuuch.“ Eine Frau auf ihrem Fahrrad bremst und bleibt stehen, schaut aus der Ferne zu. Später gehen die Sän­ge­r:in­nen um die Ecke noch essen. „Auf den Mond“, rufen sie beim Anstoßen.

Das 2.012. Mal

Der Sommer ist vorbei. Auf dem Kirchvorplatz muss sich beim Singen niemand mehr die Augen abschirmen, die Sonne ist schon woanders. Nachdem der letzte Ton verklungen ist, ergreift Ingrid Lippert das Wort.

Foto: Jens Gyarmaty

„Letzte Nacht hatte ich einen Traum“, sagt sie. „Der Bürgermeister von Charlottenburg-Wilmersdorf stand bei mir vor der Tür und hat mich gefragt: Wann hört dieses unendliche Gedudel vor der Kirche eigentlich auf?“ Alle lachen. „Und dann habe ich gesagt, nun ja, das hört auf, wenn Sie, die Politiker, sich endlich um alle Konflikte und Kriege in der Welt kümmern.“ Solange das nicht passiere, müsse man wohl weitersingen.

Das 2.037. Mal

Oktober. Bei der dritten Strophe blicken nun alle nach oben und suchen den Himmel ab. Seht ihr den Mond dort stehen? / Er ist nur halb zu sehen / und ist doch rund und schön. Zwar ist es dunkel genug, doch die Kirche steht im Weg. Dafür ist der kalte Abendhauch aus der siebten Strophe Realität geworden. Heidi Krickeberg läuft beim Flöte spielen die Nase. „Das macht so keine Freude“, sagt sie. „Aber es war schön, euch alle zu sehen.“

„Wir halten die Stellung“, sagt Erika Kube.

Das 2.045. Mal

„Die Dunkelheit macht mir zu schaffen“, sagt Erika Pfaffenberg, als sich nach dem Mondlied alle wieder voneinander verabschieden. „Da sind diese kleinen Momente hier wichtig.“

Und zu Heidi Krickeberg gewandt: „Laufen wir noch ein Stück zusammen?“

Leonie Gubela, 32, ist wochentaz-Redakteurin und lebt in der Nachbarschaft der Kirche am Hohenzollernplatz. Das Mondlied kann sie nun auch auswendig.

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