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■ Mögliche OrteTransitraum

Wie vom Gericht oder Krankenhaus weiß vom Arbeitsamt jeder, wie es funktioniert, ohne es je aufgesucht zu haben. In der Eingangshalle herrscht rege Geschäftigkeit. Nur gelegentlich bleibt jemand vor der überdimensionierten Wegweiservitrine stehen, in der in viel zu kleinen, beweglichen Lettern die einzelnen Abteilungen aufgeführt sind wie auf einer Lebensmittelpackung die Ingredienzien.

Kaum zu glauben, was es im Arbeitsamt alles zu verwalten gibt. Die Umherlaufenden wissen, wohin sie müssen. Auf dem Arbeitsamt wird gearbeitet, genau das scheint man den Freigesetzten bereits im Eingangsbereich unmißverständlich kundtun zu wollen. Aktenberge werden auf kleinen Rollwagen zum Fahrstuhl geschoben, „Mahlzeit“, sagen sich ihre Lenker. Manche Flure sind dunkel und leer, man ist auf größeren Ansturm gefaßt.

Für den Arbeitslosen, Störenfried in der Betriebsamkeit des Amtes, gibt es zwei Kernhandlungen: die Meldung und die Vermittlungsberatung. Der Vorgang ist einem Besuch beim Facharzt nicht unähnlich. Nach der Meldung bekommt man einen Überweisungsschein, Termin erst nach Vereinbarung. Als Alltagsereignis interessiert die Erstbegehung, in deren Zentrum das Prinzip Wartenummer steht. Es ist ein stummes, scheinbar referenzloses Verweisungssystem, das die Verausgabung von Zeit bei gleichzeitiger Alarmbereitschaft verordnet. Bald glaubt man, Struktur und Rhythmus verstanden zu haben, aber die Regel wird immer wieder durchbrochen. 597 zu Zimmer 248, 598 zu Zimmer 248, 326 zu Zimmer 259. Unmöglich, zur Toilette zu verschwinden. Wer seine Nummer verpaßt, läuft Gefahr, eine neue ziehen zu müssen. Hieraus wird gern abgeleitet, daß es darum geht, den Amtsgänger gefügig zu machen und ihn zur Nummer zu degradieren. Doch das einzige, was in dieser Anordnung umfassend organisiert scheint, ist schlechte Laune.

Die Erstbegehung ist ein bedeutsamer Initiationsakt, der unbedingte Anwesenheit verlangt. Der ganze Vorgang wäre auch postalisch zu erledigen, aber es soll eine symbolische Bekräftigung durchgeführt werden, keine Dienstleistung. Der konstitutive Zeitüberschuß tritt dem Arbeitslosen beim Warten als Voraussetzung und Vorwurf gegenüber. Die Schalensitze aus Hartplastik tragen stolz ihre Brandlöcher als Tätowierungen eines erzwungenen Zeitstaus. Unterwürfigkeit und Trotz halten die Grundstimmung des Raums in der Waage.

Man wartet im Flur, das stimmt ein auf die bevorstehende Desintegration, signalisiert aber zugleich die Vorläufigkeit des neuen sozialen Status, über dem das Versprechen schwebt, bei entsprechender Führung aus ihm wieder hinausgeleitet zu werden.

Als Aschenbecher dienen Bonbondosen oder Kaffeebecher, die von einigen demonstrativ mißachtet werden. Zeitungen liegen nicht aus. Handgeschriebene Hinweisschilder dienen als Lektüre, vereinzelt kleben kleine Witzbildchen aus Kalendern für Büroarbeiter an den Wänden. An zu niedrigen Tischen füllen manche gebückt Formulare aus.

Nach Anzeige der eigenen Nummer betritt man ein Büro, in dem immer zwei Arbeitslose gleichzeitig unterwiesen werden. Im Gegensatz zur ärztlichen Versorgung scheint es keine Schweigepflicht zu geben. Es folgt ein Teilentzug der bürgerlichen Ehrenrechte: Sozialversicherungsausweis und Lohnsteuerkarte werden eingezogen, Ämter, die Geldleistungen gewähren, sind auf nichts so sehr erpicht wie Schutzvorkehrungen gegen drohenden Betrug. Ganze Staffeln von Fragen nageln den Antragsteller auf eine eindeutige soziale Position fest. Das Amtswesen erträgt keine Definitionslücken. Wenn alle Unterlagen vollständig sind, schickt man den Arbeitslosen mit neuer Wartenummer wieder vor die Tür. Fehlt ein Papier oder Stempel, ist man durchgefallen. Während der Öffnungszeiten darf man wiederkommen, schließlich fußt das Verfahren auf einem sorgsam formulierten Rechtsanspruch.

Zur Bekräftigung des Rangunterschiedes bedienen die Angestellten der „Leiste“, wie diese Zone im Hausjargon heißt, einen Computer. Die neuen Arbeitslosen finden sich nur mühsam in das Getriebe ein. Immer wieder kommt es zu verbalen Ausfällen und heftigem Türenschlagen. Das gilt für Neuankömmlinge. Die Erfahrenen schauen in ihrer Apathie nicht mehr auf. Sie wissen, daß die Rückkehr in den gesellschaftlichen Raum bis auf weiteres unwahrscheinlich ist. Harry Nutt

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