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Modellprojekt in HamburgNeue Wege für die Psyche

Im Hamburger Süden wurde ein Modell erprobt, psychisch schwer Erkrankten besser zu helfen. Es ist Vorreiter für den neuen Psychiatrieplan des Senats.

Auch ein Werkzeug der Psychiatrie: Psychopharmaka Foto: Jürgen Wiedl/dpa

Hamburg taz | Seit zweieinhalb Jahren läuft in den Hamburger Stadtteilen Harburg und Wilhelmsburg ein Modellversuch, bei dem es darum geht, die Versorgung schwer psychisch Erkrankter zu verbessern. Ziel ist es, zu verhindern, dass die Kranken, die oft Schwierigkeiten haben, sich selbst Hilfe zu suchen, durch die Maschen des Hilfesystems fallen. Bei einer Tagung im Bürgerhaus Wilhelmsburg ziehen Fachkräfte, Betroffene und Angehörige heute eine Zwischenbilanz.

Anlass für das Projekt sei ein besonders schwieriger Behandlungsfall gewesen, erzählt Astrid Jörns-Presentati, die seit September 2022 die Zusammenarbeit der psychiatrischen Be­hand­le­r*in­nen in der „Modellregion Hamburger Süden“ koordiniert. Eine Person habe eine schwere psychische Krise erlitten, bei der das bisherige Hilfesystem versagt habe. Es habe sich gezeigt, dass komplexe Fälle nicht von ei­nem*r Be­hand­le­r*in allein gelöst werden könnten.

Vor zweieinhalb Jahren unterzeichneten deshalb 15 psychiatrische Ver­sor­ge­r*in­nen einen Vertrag, in dem sie sich verpflichteten, stärker zusammenzuarbeiten – unter ihnen das Zentrum für Seelische Gesundheit im Asklepios Klinikum Harburg, das Gesundheitsamt, aber auch Beratungsstellen oder Wohngruppen. Auch eine Suchthilfe ist dabei.

In der Modellregion soll erprobt werden, wie die sieben Gemeindepsychiatrischen Verbünde organisiert werden könnten, die bald in Hamburg entstehen sollen. Diese sollen psychisch schwer erkrankte Menschen ohne große Hürden und in der Nähe ihrer Wohnorte erreichen. Sie sind Teil des neuen Landespsychiatrieplans, den die Hamburger Bürgerschaft im Februar beschloss.

Keine 08/15-Behandlung

Teil des Plans sind bezirkliche Psych­ia­trie­ko­or­di­na­to­r*in­nen, die eine ähnliche Aufgabe wie Jörns-Presentati übernehmen. Das sei besonders wertvoll, weil diese Ko­or­di­na­to­r*in­nen ihre Bezirke gut kennen, sagt Jörns-Presentati. Im Hamburger Süden gibt es etwa viele schwangere Frauen in der Psychiatrie, sodass sie an dieser Stelle angesetzt hat – nach der Geburt können die Frauen oft nicht in den Einrichtungen bleiben.

Für Jörns-Presentati haben die letzten Jahre gezeigt, dass man die Kranken unbedingt individuell sehen müsse. Oft würden Be­hand­le­r*in­nen in Schubladen denken: Diagnose A heißt Behandlungsweg B.

Eigentlich müssten sie aber viel mehr auf die Bedürfnisse einer Einzelperson eingehen und dafür auch neue Behandlungswege finden. So konnte eine Person innerhalb ihrer Wohneinrichtung durch einen anderen Träger ergänzend behandelt werden, ohne dafür aus ihrem gewohnten Umfeld gerissen zu werden.

Zentral für das Projekt ist, dass Betroffene an ihren Behandlungsplänen mitarbeiten. Bei regelmäßigen Treffen sprechen die verschiedenen Träger mit den Betroffenen über ihre Situation und die passende Behandlung, auf Wunsch gemeinsam mit Angehörigen der Erkrankten. Auch aufsuchende Versorgungsangebote haben sich als sinnvoll erwiesen. Dabei behandeln Fachkräfte die Betroffenen zuhause, weil sie sich dort wohlfühlen.

Zu den Erfolgen rechnet die Koordinatorin, dass ein neues Denken gefördert wurde

Zu den Erfolgen des Projekts rechnet Jörns-Presentati, dass eine neue Denkweise beim Behandeln gefördert und die Stigmatisierung der Kranken verringert worden sei. Auch das sei wichtig für das Projekt: Fachkräfte sollen offen über ihre Unsicherheiten im Umgang mit schwer psychisch Erkrankten sprechen. In diesem Bereich sieht Jörns-Presentati deutliche Erfolge.

Zwar konnte vielen Betroffenen geholfen werden, doch das hat seinen Preis: Der zeitliche Aufwand für das Projekt ist hoch. Die Kooperation läuft neben dem Alltagsgeschehen der Einrichtungen und muss darin eingeplant werden.

Besonders für das Asklepios Klinikum in Harburg, der einzigen psychiatrischen Klinik in der Modellregion, sei es nicht einfach, Zeit für das Projekt aufzubringen. Dass dieses trotzdem so gut funktionierte, habe daran gelegen, dass alle Beteiligten sich besonders engagiert hätten – das gelte sowohl für die Fachkräfte als auch für Daniel Schöttle, den Chefarzt des Zentrums im Asklepios Klinikum Harburg.

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