Modell gegen rechte Gewalt: "Wir haben keine Angst"
Das Bremer Projekt "Köftekosher" vermittelt jüdischen und muslimischen Kindern, was Rassismus und Antisemitismus bedeuten und wie sie sich dagegen wehren.
BREMEN taz | Vorsichtig schneidet Numan mit dem Skalpell an der Nase entlang. Er folgt dem schwarzen Strich auf dem hellen, festen Karton. Das Stück, das er ausschneidet, gehört zu dem gemalten Gesicht von Marwa El Sherbini. Es ist die Schablone, mit deren Hilfe später ein Denkmal im Bremer Ostertor-Viertel entstehen soll.
Numan hat sich das Portrait von Marwa El Sherbini ausgesucht, weil sie ein Kopftuch trägt, „so wie meine Mutter“, sagt Numan. Der Dreizehnjährige ist eines von zwölf Kindern, die während der Osterferien an einem Pilotprojekt zu rechter Gewalt in Bremen teilnehmen. El Sherbini ist eines der prominentesten Todesopfer.
Marwa El Sherbini kam 2005 mit ihrem Mann Elwy Okaz aus Kairo nach Bremen. 2006 kommt ihr Sohn Mustafa zur Welt. Zwei Jahre später zieht die Familie nach Dresden, Okaz beginnt dort am Max-Planck-Institut zu promovieren. Marwa El Sherbini hatte in Alexandria Pharmazie studiert, sie spielte erfolgreich Handball. Weil Alex W. sie wegen ihres Kopftuches beleidigt hatte, zeigte El Sherbini ihn an. Mit dem Kopftuch habe sie die deutsche Kultur beleidigt, schreibt der in einem Brief ans Gericht. In der Berufungsverhandlung am 1. Juni 2009 sticht Alex W. 18 mal mit einem Messer auf El Sherbini ein. Der dreijährige Sohn sieht den Tod der Mutter mit an. Marwa El Sherbini wurde 32 Jahre alt.
Jeweils drei Jungen und drei Mädchen aus der jüdischen und aus muslimischen Gemeinden sind zusammen gekommen, um sich zehn Tage lang mit den Hintergründen von rechtsextremer Gewalt zu beschäftigen. Jeder Tag beginnt mit dem gemeinsamen Mittagessen. Das ist sowohl kosher als auch halal, die Kinder können jede Speise probieren. „Köftekosher“ heißt deshalb das Projekt.
Zwar denken viele bei Juden und Muslimen gleich an den Nahost-Konflikt. Doch darum geht es nicht. Oder, nur ein bisschen. Die Kinder sollen lernen, zusammen zu halten. Hier in Deutschland haben beide Gruppen mit Ressentiments zu kämpfen. Ihnen schlägt Rassismus und Antisemitismus entgegen.
Wen dieser Hass treffen kann, wen er schon getroffen hat, das erfahren die Kinder in dem Projekt. Jeden Tag erzählt ein Referent über Homophobie, über die Lebensbedingungen der Sinti und Roma oder darüber, wie Menschen obdachlos werden. Begleitet wird alles von der Filmemacherin Döndü Kilic. Es soll ein Dokumentarfilm entstehen, für den auch die Kinder selbst lernen, die Kamera zu bedienen. Sie führen Interviews und erzählen sich von ihren Erfahrungen mit Diskriminierung.
„Es geht nicht darum, den Deutschen dabei zu helfen, ihre Vergangenheit aufzuarbeiten. Sie hatten über 60 Jahre Zeit und sind den Nazismus nicht losgeworden“, sagt die Künstlerin Elianna Renner, die mit Sahsine Ariker das Projekt leitet. Sie wollen denen, die von den Neonazis zu Opfern gemacht werden, beibringen, wo sie in der Stadt Hilfe finden und wie sie sich wehren.
Klaus Peter Beer war homosexuell. In seiner konservativ-katholischen Heimatstadt Amberg nahe Nürnberg konnte er deshalb nicht frei leben. 1966 zog er nach Darmstadt und begann eine Ausbildung als landwirtschaftlicher Facharbeiter. Als man dort von seiner sexuellen Neigung erfuhr, wurde er von der Schule geschmissen. In Frankfurt arbeitete er dann als Busfahrer. Seinen Eltern hatte er nie von seiner Homosexualität erzählt. Im September 1995 war Beer wieder in Amberg, um sie zu besuchen. In einer Kneipe traf er auf zwei Skinheads. Wenig später schlugen sie ihn in einem Park bewusstlos. Dann schmissen sie ihn in einen Fluss. Er ertrank. Die beiden Neonazis hatten nach der Tat damit geprahlt. Klaus Peter Beer wurde 48 Jahre alt.
„Es war echt hart, die Listen zu vergleichen“, sagt Sahsine Ariker. Denn über die von Neonazis Ermordeten gibt es verschiedene Statistiken. Offiziell zählt die Bundesregierung 58 Opfer, die seit 1990 von Neonazis ermordet wurden. Um die zehn Morde des „Nationalsozialistischen Untergrunds“ wurde die Statistik kurz vor der Trauerfeier erweitert. Andere Zählungen kommen auf weitaus mehr Morde durch Neonazis. Die Amadeo-Antonio-Stiftung beispielsweise kommt auf 182 Ermordete seit 1990.
Belaid Baylal stammte aus Marokko. Weil er mit anderen Arbeitern bei einem Streik für mehr Rechte kämpfte, kam er 1980 ins Gefängnis und wurde gefoltert. 1991 beantragte er in Deutschland Asyl. Am 8. Mai 1993 gehen Baylal und vier Freunde aus einem Asylbewerberheim im brandenburgischen Belzig in eine Kneipe. Sie treffen auf zwei junge Erwachsene, die von sich selbst sagen, „Ausländer nicht zu mögen“. Die beiden Rechtsradikalen ziehen Baylal vom Stuhl, während einer ihn festhält, schlägt und tritt der anderen ihn in den Bauch. Baylal erleidet schwere innere Verletzungen. In den folgenden Jahren muss er immer wieder wegen drohenden Darmverschlüssen ins Krankenhaus. Er hat Schmerzen und vereinsamt zunehmend. Sieben Jahre nach der Tat stirbt er am 3. November 2000 an Multiorganversagen, einer Spätfolge des Überfalls. Belaid Baylal wurde 42 Jahr alt.
Numans Schablone ist fertig. Er drückt sie an die frisch gestrichene Wand des kleinen Trafo-Häuschens. Mit Hilfe der Vorlage sprüht er das Portrait von El Sherbini an die Wand. Das Häuschen steht mitten im Bremer Szene-Viertel Ostertor. Früher klebte daran Werbung für Konzerte, in die Ecken pinkelten die Besucher der vielen umliegenden Kneipen. Doch die Plakate sind entfernt, alles ist für die Kinder vorbereitet.
Das Trafo-Häuschen gehört dem Bremer Energie-Versorger SWB. Entgegen allgemeiner Vermutungen zog die SWB aus der Werbefläche keine Einnahmen. Es wurde wild plakatiert. Die Entscheidung, dem Projekt Köftekosher die Fläche zur Verfügung zu stellen, fiel innerhalb weniger Tage. „Es passte einfach“, sagt der SWB-Pressesprecher Christoph Brinkmann.
Zwölf Portraits sollen hier nun für immer aufgesprüht bleiben. Unter dem kleinen Vordach werden an der einen Seite die Lebensgeschichten zu lesen sein: Obdachlose, Muslime, Juden, Behinderte, politische Gegner – sie alle hatten ein Leben, bevor ihr Name in der Zeitung auftauchte und über ihre Ermordung durch Neonazis berichtet wurde.
Sahsine Ariker und die Kinder hoffen, dass dieser Ort respektiert wird. Eine Lackschicht wird die Graffitis schützen. Kleinerer Vandalismus lässt sich so besser beheben. „Allerdings“, sagt der dreizehnjährige Enes, „sollen die Nazis die Gesichter auch sehen. Sie sollen sehen, dass wir keine Angst vor ihnen haben.“
Man müsse die Kinder aufklären, anstatt die Situation schön zu reden, sagt Elianna Renner. Sie erzählt, dass sie in ihrer jüdischen Familie selbst sehr früh mit der Shoah konfrontiert wurde. „Ich habe als Kind genug Erfahrungen mit Antisemitismus gemacht“, sagt Renner.
Sahsine Ariker ist muslimisch sozialisiert. „Wir wissen, wovon wir beim Antisemitismus und Rassismus reden“, sagen beide. Die Idee zu ihrem Projekt ist schon älter, ihre Anträge schrieben sie im Oktober 2011, kurz bevor die NSU-Morde bekannt wurden. „Das hat noch einmal gezeigt, wie aktuell das Problem ist“, sagt Ariker.
Gefördert wird das Projekt vom Bundesfamilienministerium, von der Stadt Bremen, dem Bremer Beirat Östliche Vorstadt und vielen Kooperationspartnern. Am Dienstag wird der Gedenkpavillion offiziell eingeweiht. Renner und Ariker wollen in anderen Städten weitermachen. Das sei nicht ganz so einfach, denn nicht überall gibt es jüdische Gemeinden. Als nächste Orte sind Berlin und das Ruhrgebiet geplant: Dort gab es besonders viele Neonazi-Opfer.
Kajrat Batesov kam 2001 mit seinen Eltern aus Kasachstan nach Deutschland. Sein Sohn blieb bei den Großeltern in Alma Ata. Als Batesov und ein Freund am 4. Mai 2002 eine Disko im brandenburgischen Wittstock besuchen, geraten sie in eine Schlägerei mit einer Gruppe junger Männer. Sie werden als „Scheiß-Russen“ beschimpft, werden zu Boden geschlagen und getreten. Zahlreiche Disko-Besucher schauen dabei zu. Auch, als einer der Täter einen Steinbrocken nimmt und auf den bewusstlosen Kajrat Batesov wirft. 19 Tage später stirbt er an seinen Verletzungen. Später vor Gericht wollten die meisten Schaulustigen nichts gesehen haben, nur ein Zeuge sagt aus. Das Gericht stellte „diffuse Fremdenfeindlichkeit“ als Motiv fest. Kajrat Batesov wurde 24 Jahre alt.
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