Mobilitätswende in Berlin: In allen Kiezen ist Ruh
Kiezblock-Inis wollten in Friedrichshain-Kreuzberg Ruheinseln schaffen – und werden vom Bezirk überholt: Der plant flächendeckende Verkehrsberuhigung
„Wir haben den politischen Auftrag, die Verkehrsberuhigung flächendeckend voranzubringen“, sagt Verkehrsstadträtin Annika Gerold (Grüne). Sie kann gleich auf eine ganze Reihe von Gesetzen und Beschlüssen verweisen: nicht nur das landesweit gültige Mobilitätsgesetz mit Radverkehrskonzept und Fußverkehrskonzept, sondern auch ein bezirkliches Konzept zur Entsiegelung – sowie mehrere von der BVV beschlossene EinwohnerInnenanträge zur Einrichtung von Kiezblocks.
Deshalb brauche es nun eine „strukturierte Herangehensweise“, so Gerold, die auf eine deutliche Erhöhung ihrer Mittel im neuen Landeshaushalt hofft, der sich gerade auf der Zielgeraden befindet. Das Konzept markiert eine kleine Zeitenwende: Es rückt ab vom Prinzip, erst dort tätig zu werden, wo AnwohnerInnen sich organisiert und Forderungen artikuliert haben. Stattdessen sollen nun auch objektive Kriterien dem Stadtumbau zugrunde gelegt werden.
„Datenbasierter Ansatz zur Analyse von Planungsräumen“, heißt das auf Amtsdeutsch. Dafür wurden alle Kieze im Bezirk (die meist einem oder zwei der sogenannten Planungsräume entsprechen) auf Umweltbelastung und soziale Situation abgeklopft: Wie dicht bewohnt sind sie, wie viel Grünraum gibt es, wie ist die Belastung durch Lärm, wie sauber die Luft? Auch Aspekte wie die Standorte von Grundschulen mit einem erhöhten Bedarf an Verkehrssicherheit flossen in die Analyse ein.
Acht größere zusammenhängende Bereiche hat Gerolds Team so als Kandidaten für eine Verkehrsberuhigung identifiziert – zum Beispiel in Friedrichshain die Wohngebiete südlich der Karl-Marx-Allee und den Südkiez, in Kreuzberg die Kieze nördlich der Urbanstraße und rund um den Viktoriapark sowie praktisch den gesamten Nordwesten vom Anhalter Bahnhof bis zum Mehringplatz und zur Prinzenstraße.
Andere Ansprechpartner
In manchen Fällen überlagern sich die „errechneten“ Bedarfe mit den Forderungen von Kiezblock-Initiativen, die unter dem Dach von Changing Cities e. V. seit einiger Zeit für den Umbau ihrer Viertel trommeln – so im Südkiez, im Viktoriakiez und rund um den Oranienplatz. Anderswo, etwa im Kreuzberger Nordwesten und an der Karl-Marx-Allee, gibt es dagegen noch keine AktivistInnen, die Pläne schmieden, Demos anmelden oder Unterschriften sammeln. Dort will das Bezirksamt andere Ansprechpartner suchen, um eine Beteiligung der AnwohnerInnen zu gewährleisten – beispielsweise das Quartiersmanagement.
Kombiniert man auf dem Stadtplan die per Datenanalyse ermittelten Kieze mit den Kiezblocks, für die es einen BVV-Beschluss gibt (oder der bald erwartet wird), und fügt man dann noch die Bereiche hinzu, in denen der Bezirk schon von sich aus tätig geworden ist (etwa im Kreuzberger Wrangelkiez oder im Friedrichshainer Nordkiez), dann bedecken diese Flächen mehr oder weniger den gesamten Bezirk.
Allerdings legt Felix Weisbrich, der Leiter des bezirklichen Straßen- und Grünflächenamts (SGA), Wert darauf, dass es sich nicht um einen „Flickenteppich“, sondern um „Teile eines Puzzles“ handelt. Die Aufgabe sei groß, räumt Weisbrich ein, „aber weniger zu tun wäre planerisch inkongruent und auch nicht gerecht“.
Bleibt die Frage, wie nun die Prioritäten gesetzt werden: „Wir sind zwar im Vergleich zu anderen Bezirken ganz gut aufgestellt, aber trotzdem können wir nicht alles gleichzeitig machen“, sagt Stadträtin Gerold. Dazu will man sich noch in diesem Sommer zu Gesprächen an einen Tisch setzen – mit den Kiezblock-Inis, aber auch mit Akteuren aus Kiezen, wo noch niemand die Initiative ergriffen hat. Auf dieser Grundlage soll eine Liste erarbeitet werden, dann geht es an die Beteiligung vor Ort.
Ehrgeizige Beteiligung
Auch hier legt das Bezirksamt großen Ehrgeiz an den Tag: Im Rahmen einer „interventiven Beteiligung“ will es experimentelle Maßnahmen umsetzen, etwa eine Diagonalsperre, die einige Tage lang den Kfz-Durchgangsverkehr verhindert. Begleitet würde das unter anderem mit Befragungen und Diskussionen vor Ort. Angesichts der Tatsache, dass jede neue Verkehrslenkung in Berlin erst einmal Chaos (und bei manchen Autofahrenden Wut) hervorruft, darf dieses Vorhaben als mutig bezeichnet werden.
An anderer Stelle scheint es hingegen kein Konfliktpotenzial zu geben: Die Kiezblock-Bewegung sei „total happy“, dass ihre Idee nun bezirksweit ausgerollt werde, sagt Ragnhild Sørensen von Changing Cities – auch wenn die Initiativen nun vielleicht nicht mehr privilegiert abgearbeitet werden. Vor allem gehe es nun wieder klar voran, glaubt Sørensen: „Dieser Schritt wird den Druck auf die anderen Bezirke immens erhöhen, gerade auf die, die bis jetzt wenig für die Mobilitätswende getan haben.“
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Anschlag in Magdeburg
Bis Freitag war er einer von uns
Elon Musk und die AfD
Die Welt zerstören und dann ab auf den Mars
Magdeburg nach dem Anschlag
Atempause und stilles Gedenken
Bankkarten für Geflüchtete
Bezahlkarte – rassistisch oder smart?
Nordkoreas Soldaten in Russland
Kim Jong Un liefert Kanonenfutter
Tarifeinigung bei Volkswagen
IG Metall erlebt ihr blaues „Weihnachtswunder“ bei VW