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Mobilitätswende BerlinEigene Karre stehen lassen

Freiwillige vor: In Schöneberg sollen 60 Menschen einen Monat lang auf ihr Auto verzichten; dafür gibt’s Mobiltätsgutscheine.

Weniger Autos wäre mehr... Foto: dpa

Charlottenburg hat es vorgemacht, jetzt will Schöne­berg nachziehen. Spielerisch testen, ob ein Leben ohne Auto möglich ist – das ist die Idee dahinter. Praktisch funk­tio­niert das so: Anwohnerinnen und Anwohnern eines vorher festgelegten Quartiers verzichten vier Wochen lang freiwillig auf ihr Auto. Im Gegenzug bekommen sie einen Mobilitätsgutschein im Wert von mehreren hundert Euro. Damit können sie sich bei Bedarf ein Auto bei einer Carsharing-Agentur mieten, einen E-Scooter oder ein Lastenfahrrad ausleihen oder ein Ticket für den Öffentlichen Nahverkehr kaufen.

Rund 60 Menschen verfolgten am Donnerstagabend im Rathaus Schöneberg die Informationsveranstaltung für die Aktion, die im September 2020 an den Start gehen soll und sich „kiezerfahren“ nennt. Chris­tia­ne Heiß (Grüne), Umwelt- und Verkehrsstadträtin in Tempelhof-Schöneberg und laut eigenen Angaben „Mutter des Projekts“, sagte, sie sehe in dem Auftakt eine Chance für mehr. Ziel sei es, mit „Multimobilität“ zu klimaneutralen lebenswerten Stadtquartieren zu kommen.

„Wir sehen uns als Teil eines großen Mixes in der Verkehrswende“, ergänzte Regine Wosnitza, Sprecherin der Interessengemeinschaft Potsdamer Straße. Wosnitza managt das Projekt zusammen mit zwei MitstreiterInnen.

Zwei Quartiere in Schöneberg Nord sind dafür auserkoren worden: das Gebiet zwischen Dennewitz- und Nollendorfkiez sowie der Bereich Barbarossastraße und Viktoriaviertel bis zum Wittenbergplatz. Der Norden Schönebergs wurde Heiß zufolge ausgewählt, weil die dort entlang führende Potsdamer Straße zu den verkehrsbelastesten Straßen Berlins gehört. Gesucht werden nun 60 Freiwillige – pro Quartier 30 –, die bereit sind, einen Monat lang auf ihr Auto zu verzichten. Im Dennewitz- und Nollendorfkiez findet die Aktion im September statt. Das zweite Quartier folgt im Frühsommer 2021.

Wie das Ganze vonstatten geht, hat Charlottenburg in einer vom Insel-Projekt organisierten Aktion 2018 und 2019 vorgemacht. Die Aktion, die 2016 im Mierendorffkiez und am Klausenerplatz begann und zunächst „Umparken“ hieß, trägt jetzt den Namen „Sommerflotte“. Nach Angaben von Mitinitiator Rolf Mienkus haben im Juni 2018 im Mierendorffkiez 15 Leute ihr Auto abgegeben. Die Fahrzeuge seien im Parkhaus des BER abgestellt ­worden. 2019 hätten sich 42 Leute beteiligt. Diesmal habe sich jeder den autofreien Monat im Zeitraum zwischen Juni und September aussuchen können. Auch sei das Auto vor Ort stehen geblieben, lediglich der Schlüssel sei abgegeben und ein Foto vom Kilometerstand gemacht worden.

2018 habe es pro Fahrzeug einen Mobilitätsgutschein im Wert von 350 Euro gegeben, 2019 sogar im Wert von über 500 Euro. Das Ergebnis des Versuchs beschreibt Mienkus so: Von den 42 Teilnehmern der letzten Aktion hätten sieben danach das Auto abgeschafft; drei weitere seien dabei, es zu verkaufen. „Auf einmal merken die Leute, dass sie gar kein eigenes Auto brauchen.“

Finanziert wird das Projekt mit externen Mitteln und Unterstützung von Fahrzeug-Verleihfirmen. Die Technische Universität Berlin führt die wissenschaftliche Evaluation durch. Weitere Informationen: kiezerfahren.de

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7 Kommentare

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  • Wir arbeiten in Berlin, projektbezogen, wohnen im Osten von Niedersachsen in einer Zentrumsgemeinde die alles bietet, was man zum Leben braucht, und es gibt tatsächlich keine (keine) Busverbindung zum nächsten Bahnhof, der uns alle halbe Stunde mit Berlin verbindet.



    Man glaubt es nicht, also fahren wir halt Auto.

  • 8G
    80576 (Profil gelöscht)

    Toll. Klar klappt das in einer Großstadt. Hab in München auch kein Auto gebraucht. Aber was machst du auf dem Dorf? Sollen noch mehr Leute in die Städte ziehen?

    • @80576 (Profil gelöscht):

      Städte die bereits die Voraussetzung für autofrei erfüllen also Infrastruktur für Öffentlichen Nahverkehr (seit 200 Jahren) haben dürfen gern schon mal jede Menge CO2 (und Feinstaub) einsparen ohne dass sich Mensch auf dem Land gezwungen fühlen muss in die Stadt zu ziehen. Aber ja solche Modelle können und dürfen auch auf dem Land anregen funktionierenden Bedarfsgerechten öffentlichen Verkehr einzufordern. International gibt's gut funktionierende Modelle überall dort wo Menschen (noch nie) jeder ein eigenes Auto hatte. Minibusse in Anatolien probierte ich kürzlich wieder aus - da kommt Mensch auch in entlegenste Ortschaften und vor Ort profitieren ganz nebenbei auch Ältere die nicht mehr selbst fahren können. Das ist ja gerade auf dem Land auch hier ein immer größeres Thema. Mensch sollte sich also gerne ärgern über die Vernachlässigung der staatlichen Infrastruktur auf dem Land in all den Jahrzehnten des Rückbaus von Schiene und Bussen zu Gunsten (geförderten) Privatautobesitzes als über Modelle die Alternativen erproben.

  • Tja, wie wäre es mal, wenn man die Öffis hier in Berlin kostenfrei für alle macht?

    • @Maiskolben:

      Und was soll das bringen, wenn die Öffis zu den wichtigen Zeiten hoffnungslos überfüllt sind? Zuerst muss der Berliner ÖPNV massiv verbessert und erweitert werden.

  • Ich habe 1884 den ersten "ohne-Auto-leben-in-Berlin-Test" gemacht. Nicht aus Ökogründen, sondern weil ich Geld für eine Reise brauchte. Berlin ist gepflastert mit ÖPNV-Haltestellen. Ich glaube, irgendein Bürgermeister hat mal gesagt, daß es kein Berliner weiter als hundert Meter bis zur nächsten Haltestelle hat. Man kann auch mehr oder weniger gut und auch mehr oder weniger schnell fast überall hinkommen. Das stimmt. Aber wenn man sich mit Einkaufstüten und -taschen beladen durch überfüllte Busse und Bahnen quälen muß, dann erlebt man den besonderen Charme des typischen Berliners: Unhöflich, pampig, besserwisserisch. Ich habe mal auf die Frage nach der Uhrzeit die Antwort erhalten: "Die Uhrzeit willste wissen? Weeß ick, aba ob ick se Ihnen sache, weeß ick noch nich." Unterirdisch. Nach einiger Zeit habe ich wieder einen Wagen zugelegt.

    • @Thomas Schöffel:

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