Mobilität: Eine Frage der Parameter
Es ist vollbracht: Rot-Grün realisiert sein Versprechen aus dem Koalitionsvertrag und führt ein Sozialticket ein. Gestern wurde das Abkommen endlich unterzeichnet.
Zweieinhalb Jahre nach der Ankündigung hat Rot-Grün nun die Einführung eines Sozialtickets - unter dem Label "StadtTicket" - zuwege gebracht. Gestern unterzeichneten Vertreter des Sozial- und Verkehrsressorts sowie der BSAG einen entsprechenden Vertrag. Die Tickets kosten 29,25 Euro für Erwachsene, stellen gegenüber dem normalen Monatskartenpreis von rund 45 Euro also eine Ermäßigung um ein Drittel dar. Kinder und Jugendliche zahlen mit 25,40 Euro nur unwesentlich weniger. Insgesamt kalkuliert die Stadt mit einem jährlichen Zuschuss-Bedarf von 1,7 Millionen Euro.
Bei der Berechnung habe man sich sowohl an den Erfahrungen anderer Städte als auch am Bremer Jobticket orientiert, sagt Sozialstaatsrat Joachim Schuster (SPD). Und der Parameter Mobilitätssatz nach Hartz IV - 14,26 Euro? Diesen vergleichend zu Grunde zu legen sei ein "Denkfehler", sagt Schuster. Der Hartz IV-Satz sei trotz seiner diversen Pauschalen "nicht wie bei einem Warenkorb" berechnet - jeder könne und solle "sich selbst aussuchen, wofür er sein Geld ausgibt".
Die Annahme, dass Hartz IV-EmpfängerInnen durchaus über finanzielle Entscheidungsspielräume verfügen, sieht auch Verkehrs-Staatsrat Wolfgang Golasowski (parteilos) durch eine Untersuchung der BSAG gedeckt. Die habe repräsentativ 1.500 Hartz IV-BezieherInnen befragt und dabei ein "sehr überraschendes Ergebnis" ermittelt: 80 Prozent der Transferleistungs-EmpfängerInnen seien bereits regelmäßige BSAG-NutzerInnen. Durchschnittlich gäben sie dabei sogar 30 Euro monatlich aus, vielfach in Gestalt zahlreicher Einzelfahrscheine. Golasowski: "Anfangs dachten wir, wie müssten Menschen zu Mobilität verhelfen." Jetzt wisse man jedoch , dass die Gewinnung von NeukundInnen gar nicht das Thema sei.
1992 Die Ampelkoalition beschließt ein Sozialticket als Modellprojekt. Lebensdauer: ein Jahr
1994 Erneute Verhandlungen mit dem Verkehrsverbund Bremen Niedersachsen. Sie scheitern an der Forderung nach einer Garantie für Einnahmeausfälle
1999 Das "Aktionsbündnis gegen Arbeitslosigkeit und Ausgrenzung" richtet einen runden Tisch "Sozialticket" ein. Auflösung: 2001
März 2007: Die Linkspartei macht das Sozialticket mit einer Unterschriften-Sammlung zum Wahlkampfthema
Juni 2007: Rot-Grün vereinbart ein Sozialticket
März 2008 Im Poker zwischen Senat und BSAG um die Kostenverteilung prognostiziert das Unternehmen ein Defizit von vier Millionen Euro durch ein Sozialticket
Juni 2008: Das Verkehrsressort korrigiert die Einführung von "Sommer 2008" auf "Ende 2008"
Juni 2009 Der Senat beschließt ein zunächst auf zwei Jahre befristetes Sozialticket
1. Januar 2010 Das "StadtTicket" wird gültig, es fungiert auch als Kulturticket. Bremerhaven bleibt außen vor HB
73.000 BremerInnen beziehen Tansferleistungen, dazu kommen etwa 9.000 weitere "StadtTicket"-Berechtigte, zum Beispiel AsylbewerberInnen. Allerdings rechnet die BSAG nach eigenen Angaben lediglich mit rund 18.300 künftigen "StadtTicket"-KäuferInnen pro Jahr. Für die, sagt Schuster, sei das neue Ticket "eine reale Verbesserung".
Der Weg dorthin läuft über ein mehrschrittiges Verfahren: Nach dem Abholen einer "Grünen Karte" in den Geschäftsstellen der BSAG oder in den Sozialzentren, was bereits möglich ist, müssen sich die Antragsberechtigten eine Kundenkarte in einem der fünf BSAG-Servicepoints ausstellen lassen, woraufhin sie ab dem 15. Dezember das "StadtTicket" tatsächlich erwerben können. Dieses ist nicht übertragbar, nach 19 Uhr und am Wochenende können jedoch ein weiterer Erwachsener und vier Kinder bis 14 Jahren kostenlos mitfahren.
Dass ein eigenes Ticket für Kinder - die ab 19 Uhr eigentlich nicht mehr allzulang Straßenbahn fahren sollten - ähnlich teuer wie ein Erwachsenen-Ticket ist, erklärt Schuster mit der Orientierung des "StadtTickets" am Jobtticket, die bereits im Koalitionsvertrag bewusst so vorgenommen worden sei. Die Orientierung an den Hartz IV-Sätzen, die für Kinder und Jugendliche einen deutlich niedrigeren Bedarf als für Erwachsene annehmen, hätte in der Tat ein anderes Ergebnis haben müssen.
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