Mobilität in Niedersachsen: Preisgekrönter Durchschnitt
Verkehrsminister Olaf Lies adelt Städte und Kreise mit dem Titel „Fahrradfreundliche Kommune“ – dabei sind die meisten RadlerInnen unzufrieden.
In Oldenburg werden bereits 40 Prozent aller Wege mit dem Rad zurückgelegt – den Preis bekam die Stadt für ihre Steuerung des Fahrradverkehrs: An Knotenpunkten erkennen Wärmebildkameras die Zahl der RadlerInnen; Ampeln zeigen bei Bedarf länger grün. Die Grafschaft Bentheim wurde für den guten Zustand ihrer Radwege ebenso gelobt wie für einen Film, der Flüchtlingen die Bedeutung von Verkehrsschildern erläutern soll.
In Hannover reichten dagegen die blaue Markierung des City-Rings sowie Griffe und Trittbretter, die an Ampeln das Anhalten erleichtern, für die Auszeichnung. Die Region um die Landeshauptstadt herum wurde für die Schaffung von Fahrradparkplätzen an Bahnstationen, mehr Platz für Räder in den Stadtbahnen und ihr sogenanntes „Bügel-Programm“ gelobt: Pro Jahr sollen 1.000 Metallbügel aufgestellt werden, an denen Fahrräder sicherer angeschlossen werden können.
„Radfahren boomt“, sagte Verkehrsminister Lies bei der in eine Fachtagung namens „Fahrradland Niedersachsen“ eingebetteten Preisverleihung. Mit einem Anteil von 15 Prozent am Gesamtverkehr sei der Radverkehr in Niedersachsen „bereits heute überdurchschnittlich groß“, so Lies weiter. Wichtig sei es, „weiterhin zukunftsfähige Konzepte zu entwickeln“, sagte der Minister, der auch im Aufsichtsrat von Deutschlands größtem Autobauer VW sitzt. In Niedersachsens rot-grüner Koalition drängen vor allem die Grünen auf eine besondere Förderung des leisen und emissionsfreien Radverkehrs.
Nötig scheint das allemal: Beim letzten Fahrradklimatest des Allgemeinen Deutschen Fahrradclubs (ADFC), der allein in Niedersachsen von mehr als 17.000 Mitgliedern unterstützt wird, bewerteten die befragten RadlerInnen 2014 ihre Situation in dem Bundesland nur etwas besser als „ausreichend“. 32 Fragen, bei denen etwa der Zustand der Radwege, Konflikte mit Autofahrern, die Lenkung an Baustellen oder die Fahrradmitnahme im öffentlichen Verkehr abgefragt wurden, ergaben einen Schulnoten-Durchschnitt von lediglich 3,7 – ähnlich ist die Situation auch in Schleswig-Holstein, Hamburg und Bremen.
„In Niedersachsen gibt es bisher nur ein Radwegekonzept. Wir fordern seit längerem ein Radverkehrskonzept“, kritisierte Niedersachsens ADFC-Vorsitzender Dieter Schulz. Selbstverständlichkeiten wie eine einheitliche Beschilderung der Radwege fehlten, ebenso wie sichere Abstellmöglichkeiten etwa in abschließbaren Fahrradparkplätzen gerade an Bahnhöfen.
Außerdem sei nicht einmal der Erhalt der bestehenden Struktur gesichert. Zwar sei Niedersachsen mit knapp 8.000 Kilometern das Bundesland mit dem deutschlandweit längsten Radwegenetz, sagte Schulz. „Laut Aussagen des Verkehrsministeriums aus dem Jahr 2014 sind aber 15 Prozent der Radwege komplett fahrraduntauglich“, klagte der ADFC-Mann. „Und ein weiterer großer Teil ist sanierungsbedürftig.“
Mikael Colville-Andersen
Auch fehlten Radschnellwege, die gerade in einer Zeit des Elektrofahrrad-Booms nicht nur in der Region Hannover das Umland und die Stadt verbinden und so eine Alternative zum Auto fördern. Trotzdem gibt es in Niedersachsen einen solchen Schnellweg nur in Göttingen – und der ist gerade einmal vier Kilometer lang. „Trotzdem unterstützt das Land den Bau solcher Radschnellwege bisher überhaupt nicht“, sagte der ADFC-Vorsitzende.
Die Folge: Von Erfolgen wie in Dänemarks Hauptstadt Kopenhagen, wo bereits jeder dritte Weg per Bike erledigt wird, ist auch Hannover als fahrradfreundlichste Großstadt Niedersachsens weit entfernt. Im Jahr 2011 entfiel hier 19 Prozent des Verkehrs auf das Rad. Grund dafür sei vor allem mangelhafte Planung, kritisierte der Däne Mikael Colville-Andersen schon 2015 bei einer alternativen Stadtplanungskonferenz: „Ich sehe kein Konzept“, sagte er. „Die Straßen und Plätze wirken so, als seien sie für das Auto gemacht – und erst nach dem Bau wird überlegt, wie auch noch Platz für das Rad geschaffen werden kann.“
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Nan Goldin in Neuer Nationalgalerie
Claudia Roth entsetzt über Proteste
Politikwissenschaftlerin über Ukraine
„Land gegen Frieden funktioniert nicht“
Scholz und Pistorius
Journalismus oder Pferdewette?
Krieg in der Ukraine
Geschenk mit Eskalation
Krieg in der Ukraine
Kein Frieden mit Putin
taz-Recherche zu Gewalt gegen Frauen
Weil sie weiblich sind