Mobilisierung in der Ukraine: Voll erfasst für den Fronteinsatz
Die Ukraine will mit einer stärkeren Erfassung mehr Soldaten mobilisieren. Präsident Selenski und sein Oberbefehlshaber streiten über die Zahl.
Vorausgegangen war diesem Gesetzentwurf ein erster Entwurf um die Jahreswende, der für viel Aufregung gesorgt hatte, hätte er doch sogar einen Kriegsdienst von Menschen mit einem sogenannten Behinderungsgrad 3 ermöglicht. Auch Personen, die etwa nur einen Lungenflügel haben oder einen Herzschrittmacher tragen, hätten dann eingezogen werden können. Diese Bestimmung entfällt in dem neuen Entwurf. Auch Männer, die Ehefrauen oder Eltern der Behindertengruppe 1 und 2 betreuen, werden nun nicht eingezogen. Gleichzeitig wurde das Alter für einen möglichen Kriegsdienst von 27 Jahren auf 25 Jahre gesenkt. Und auch auf Bewährung entlassene Strafgefangene können nun eingezogen werden.
Nun sollen die Zeiten, die ein Soldat Kriegsdienst leistet, klar festgelegt werden. Immer wieder kritisieren Soldaten, dass sie seit fast zwei Jahren an der Front sind, ohne zu wissen, wann sie wieder nach Hause dürfen. Das neue Gesetz soll Soldaten einen Mindesturlaub von mindestens 15 Kalendertagen erlauben, freigelassenen Kriegsgefangenen darüber hinaus einmalig 90 Urlaubstage garantieren.
Die Vorbereitung auf den Kriegsdienst muss nun mindestens zwei bis drei Monate dauern. Auch die allgemeine Wehrpflicht wird abgeschafft. Stattdessen müssen nun Männer zwischen 18 und 24 Jahren eine fünfmonatige Wehrübung durchlaufen. Auch der Gang zu den Wehrbehörden wird nun entfallen. Der Mindestlohn von Soldaten wird auf umgerechnet 500 Euro festgesetzt. Nach dem neuen Gesetz kann die Armee auch Fahrzeuge und Gebäude beschlagnahmen.
Empfindliche Strafen
Wer einer Einberufung nicht nachkommt, muss mit empfindlichen Strafen rechnen. So kann diesen Personen das Fahren eines Fahrzeugs verboten, deren Eigentum und Bankkonten können beschlagnahmt werden. Alle wehrfähigen Männer müssen ein Dokument der Wehrbehörde über ihre Registrierung mit sich führen. Auch Frauen mit medizinischen Berufen können erfasst werden. Sie sind jedoch von der Ausreisesperre weiter ausgenommen.
Dawid Arachamia, Vorsitzender der Fraktion der Präsidentenpartei, sagte, nun müsse niemand mehr Angst haben, sofort nach seiner Einberufung an die Front zu müssen. Schließlich sehe das Gesetz eine mehrmonatige Ausbildung vor. Besonders gefalle ihm, so Arachamia, dass die Registrierung und Einberufung nun digital übers Smartphone erfolge.
Genau das kritisiert der in Odessa lebende Blogger Wjatscheslaw Asarow. Es sei nicht fair, von Menschen zu verlangen, immer online erreichbar zu sein – zumal sich immer weniger in der Ukraine ein Smartphone leisten könnten. Den Abgeordneten Jaroslaw Schelesnjak von „Diener des Volkes“ störte vor allem der Umstand, dass der Gesetzentwurf die Beschlagnahmung von Fahrzeugen und Gebäuden durch die Armee ermöglichen soll. Das sei eine Bedrohung für Logistikunternehmen, das Baugewerbe, Spediteure und Landwirte.
Dmytro Rasumkow, Vorsitzender der „Diener des Volkes“, kritisiert, die Wehrbehörden könnten unter anderem auch Gesundheitsdaten abfragen.
Unterdessen berichtet die ukrainische Nachrichtenagentur unian.net unter Berufung auf den Economist und die Washington Post von wachsenden Differenzen zwischen Präsident Selenski und dem Oberbefehlshaber Valeri Saluschni. Saluschnis Einschätzung, man müsse 500.000 Soldaten mobilisieren, habe Selenski für unrealistisch gehalten. Dazu fehlen die notwendigen Voraussetzungen an Uniformen, Waffen, Schulungseinrichtungen und Gelder für den Sold.
Saluschni hingegen halte es für notwendig, den zu erwartenden weiteren 400.000 in Russland neu zu mobilisierenden Soldaten eine entsprechende Anzahl an neuen Soldaten entgegenzusetzen. In einer Situation, in der die Ukrainer kriegsmüde seien, die internationale Unterstützung für die Ukraine abnehme, würde ein neuer Oberbefehlshaber die Lage „beleben“, wird Selenski zitiert.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Nach dem Anschlag in Magdeburg
Rechtsextreme instrumentalisieren Gedenken
Anschlag in Magdeburg
„Eine Schockstarre, die bis jetzt anhält“
Bundestagswahl am 23. Februar
An der Wählerschaft vorbei
Erderwärmung und Donald Trump
Kipppunkt für unseren Klimaschutz
EU-Gipfel zur Ukraine-Frage
Am Horizont droht Trump – und die EU ist leider planlos
Streit um Russland in der AfD
Chrupalla hat Ärger wegen Anti-Nato-Aussagen