Mobbing gegen YouTuber: Menschen, die auf Menschen starren
Der „Drachenlord“ ist einer der meistgehassten YouTuber Deutschlands. Seine Gegner lauern ihm sogar vor seinem Haus auf. Ein Besuch.
„Du bist der fetteste, dümmste Idiot, den ich je in meinem ganzen Leben gesehen hab“, antwortet die vermummte junge Frau, als Rainer Winkler ihr im Livestream einen Heiratsantrag macht. Über Wochen hat sie ihn umworben, den YouTuber, der sich „Drachenlord“ nennt. Nun prustet sie los, zwei langhaarige Männer treten ins Bild, lachen. Winkler steht das Entsetzen ins Gesicht geschrieben, er weint.
Fünf Jahre Mobbing
Seit fünf Jahren läuft die Mobbing-Kampagne gegen ihn. „Drachengame“ nennen sie die Mobber. Aus vereinzelten Beleidigungen – „fette Sau“, „geh ins Gas“ – wurde mit der Zeit eine ganze Szene. Hunderte Foren, Blogs, Lieder, sogar eine eigene Sprache kreisen nur um Winkler: „Lustlord“, „Lügenlord“, „Rainer Wingel“ sind seine Spitznamen. Winkler ist ein leichtes Ziel: übergewichtig, arbeitslos, ikonisch fränkelnd, erzählte er viel, oft zu viel – über Metal, Computerspiele, die Welt und sein Leben, über Sex mit Tieren und seine Penisgröße. Frauenfeindliche Äußerungen fielen, auch eine antisemitische. Auf Hasskommentare ging er ausführlich ein, schimpfte zurück. Und gab schließlich seine private Adresse preis: „Traut euch, kommt zu mir und legt euch mit mir an! Ich prügel’ die Scheiße aus euch raus!“
Sie trauen sich. Werfen Eier, Klopapier und Feuerwerkskörper; versuchen, auf das Grundstück im 40-Einwohner-Nest zu gelangen. Und filmen das alles. Nachher brüsten sie sich damit im Netz. Die „Drachenschanze“, also das Haus von Winkler, gleicht einer Pilgerstätte. Der mittlerweile verurteilte Alexander S. rief sogar die Feuerwehr während eines „Drachenlord“-Livestreams, obwohl es gar nicht brannte.
Am Ortseingang kleben noch Sticker vom „Schanzenfest“, dem 800-Personen-Auflauf, vor zwei Wochen. „Traut euch, kommt zu mir“: die Worte aus Winklers Video. Ein Pepe-Meme-Frosch haucht „Antifa go home“. Auf welcher Seite des politischen Spektrums viele der Besucher stehen, ist deutlich – auch wenn sie sich immer wieder mit den hehren Zielen ihres Unternehmens schmücken: Winkler sei sexistisch, rassistisch, gefährlich. Man müsse die Welt vor ihm schützen.
Es sind Leute, für die es „schwarzen Humor“ beweist, den Holocaust zu verharmlosen. Denen das Schwache ein Graus ist. Und die sich von ihren Opfern oft nur in einem unterscheiden: nicht das Opfer zu sein. Alexander S. war selbst arbeitslos, bevor er ins Gefängnis musste. Die heutige Jugend sei unpolitisch, behaupten Meinungsführer immer. Aber was, wenn sie sehr wohl politisch ist – nur anders als gedacht? Altschauerberg: Chemnitz in klein.
Wie an einer Unfallstelle
Wer als Journalist in den Ort fährt, gerät in ein Dilemma: Durch meine bloße Anwesenheit reihe ich mich ein in all die Hater, die ihn belagern. Wie weit soll ich gehen? Bei den Anwohnern klingeln? Wie nah an die Zäune herantreten? Die Nachbarn stehen im Garten, sind entnervt, wollen nicht reden. Auch ein weiterer Anwohner, der gerade mit dem Auto ankommt, will in Ruhe gelassen werden und lässt seinen bellenden Hund das verdeutlichen. Ich fühle mich wie an einer Unfallstelle.
Vor Winklers ramponiertem Haus machen sich gerade zwei blonde junge Frauen an der Pforte zu schaffen. Das Tor ist verrammelt, ein beschädigter Sichtschutz ist gerade nicht hoch genug, um den Blick zu versperren. „Rainer! Rainer!“, ruft die eine, giggelt und klettert darüber. „Wollt ihr auch zum Drachenlord?“, frage ich und werde ignoriert. Der anderen ist das Ganze peinlich und sie flüchtet in ihr Auto. Zehn Minuten später sitzen beide auf der Terrasse. „Ich bin auch Journalist“, ruft die eine kichernd über den Zaun und fragt: „Was willst du hier?“ Auch ihr Auto steht nun auf der anderen Seite des Tores. Es scheint, als habe Winkler sie hereingelassen. Sind sie Freundinnen von ihm? Oder wollen sie ihn nur verarschen und er fällt auf sie rein? Und wurde ich jetzt auch gefilmt? Schon kommt er herausgestürmt und brüllt mich an: „Ich prügel’ dich hier runter, wenn du weiter auf mein Grundstück schaust!“
„Jeder Unfall belichtet die Welt“, schreibt der Kulturtheoretiker Paul Virilio. An ihm werde die Gewalt der Geschwindigkeit erst sichtbar, die ihn verursacht hat. In Altschauerberg tritt die Gewalt all des Mobbings ans Licht, das im Internet so verstreut und harmlos wirken kann. Die Allmachtsfantasien, der sonst im stillen Kämmerlein erlebte Rausch der enthemmten Horden hinterlässt unübersehbare Spuren.
„Wahre Idioten sind die, die stundenlang herfahren“
„Einfach nur krank“, findet Wirt Aldo Pometti, was die „Drachenlord“-Gegner treiben. Ihm gehört das Restaurant „Roter Stern“ im Markt Emskirchen, zwei Kilometer weiter. Seit Winkler erwähnt hat, dass er manchmal dort Pizza isst, wird Pometti mit Scherzanrufen terrorisiert, zwanzig, vierzig Mal am Tag: „Ja, einmal hundert Pizzen für Herrn Winkler, bitte.“ Einige riefen sogar mitten in der Nacht an. „Die gehen jetzt alle direkt an meinen Anwalt“, sagt Pometti. „Wir haben schon vier davon erwischt. Das ist Geschäftsschädigung!“ Andere verteilen schlechte Bewertungen seines Restaurants.
Andererseits profitiert Pometti auch von dem Hype. „Ich habe nichts gegen diese Leute, solange sie hier herkommen, essen, trinken und brav bezahlen. Letzte Woche war die Bude voll!“ Sollte Rainer Winkler aufhören, damit er seinen Hass-Fans nicht immer neuen Stoff liefert? „Wenn ich er wäre, würde ich jetzt extra weitermachen! Die wahren Idioten sind die Leute, die hier stundenlang herfahren nur wegen Rainer Winkler aus dem Internet.“ Er sei schon fünf Mal mit seinen Kumpels in Altschauerberg gewesen, berichtet auch einer der Kellner, etwa 20 Jahre alt, als sonst niemand im Raum ist. „Aber der hat uns immer sofort weggejagt.“ Die Videos vom „Drachenlord“ seien ja schon „gschmadig“.
Aldo Pometti, Restaurantbesitzer
Der Bürgermeister wolle sich dazu nicht äußern. Seine Sekretärin verweist auf das Landratsamt in Neustadt an der Aisch. „Wir kämpfen mit ungleichen Waffen“, klagt dort Sachgebietsleiter Rainer Kahler. „Wir haben nur legale Mittel zur Verfügung.“ Schon mit den Veranstaltern der Demonstration Kontakt aufzunehmen, sei unmöglich gewesen. „Das verschwindet alles in der Anonymität.“ Im Vorfeld wurde daher ein Versammlungsverbot für das Dorf ausgesprochen. Den Aufmarsch verhindert hat das nicht.
„Da sind Staat und Gesellschaft insgesamt gefordert“, sagt Kahler. Man müsse über höhere Strafen nachdenken, über mehr Möglichkeiten für die Polizei, zu ermitteln. „Aber ich bin kein IT-Experte.“ Wie will die Verwaltung Altschauerberg schützen? Man prüfe „weitere Maßnahmen“ – etwa ein Betretungsverbot für Teile des Ortes. Auch an Winkler selbst sei das Amt herangetreten, „um gemeinsam eine Lösung zu finden“.
Wie die aussehen könnte? Das sei noch nicht mit Gemeinde und Polizei abgestimmt. „Außerdem hört der Feind mit.“ Der Feind: die Hater. Ob die Polizei überhaupt genug Personal hat, um all das durchzusetzen? Da müsse man die fragen.
„Es reicht ein Verrückter“
Der Pressesprecher des Polizeipräsidiums Mittelfranken will am Telefon nichts dazu sagen. Es sei alles noch „in der Schwebe“. Auf der Wache in Neustadt öffnet ein Beamter, der auch nichts sagen will, dann aber doch etwas sagt. Er sei selbst bei dem Einsatz dabei gewesen. „Aber das war verhältnismäßig ruhig. Das sind ja eigentlich brave Leute. Die machen das dann auch, wenn man ihnen was sagt. Anders als jetzt im linken Spektrum.“ Er glaubt, dass der Mob beim nächsten Mal noch größer wird: „Alle, die da jetzt nicht dabei waren, werden dann unbedingt auch kommen wollen.“ Die Community streue verschiedene Termine, um die Polizei zu verwirren. Ob die Gewalt noch schlimmere Formen annehmen wird? „Es reicht ja ein Verrückter, der da einen Molotowcocktail reinschmeißt.“
Die Politik wirkt überfordert. Etwa 300 Platzverweise wurden bei der Demo ausgesprochen, einige „Hater“ festgenommen. Doch wegen Straftaten, die „im oder mittels Internet“ begangen wurden, sei dort bislang noch keiner belangt worden, schreibt Anita Traud von der Staatsanwaltschaft Nürnberg-Fürth auf Anfrage.
Der „Drachenlord“ selbst hat zwar zeitweise seinen YouTube-Kanal gesperrt, machte aber weiter täglich Livestreams – auf Younow. Jetzt ist auch der Kanal wieder freigeschaltet. Seine Gegner verfolgen weiterhin jede seiner Bewegungen. Zu Tausenden, rund um die Uhr. Winkler kann nicht ohne die Hater, und die Hater, sie können nicht ohne ihn.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Nan Goldin in Neuer Nationalgalerie
Claudia Roth entsetzt über Proteste
Juso-Chef über Bundestagswahlkampf
„Das ist unsere Bedingung“
Politikwissenschaftlerin über Ukraine
„Land gegen Frieden funktioniert nicht“
Bündnis Sahra Wagenknecht
Ein Bestellerautor will in den Bundestag
Nukleare Drohungen
Angst ist ein lautes Gefühl
taz-Recherche zu Gewalt gegen Frauen
Eine ganz normale Woche in Deutschland