: Mitten im Marschboden
■ In Schaufenstern und im Innern von Geschäften dokumentiert die Geschichtswerkstatt die Alltagskultur der Fährstraße in Wilhelmsburg
Ein Vorzeigestadtteil war Wilhelmsburg noch nie. Als die verschlafene ländliche Siedlung am Ende des 19. Jahrhunderts ins Visier der Städteplaner und Grundstücksspekulanten rückte, wurde ein Viertel für die kleinen Leute aus dem Marschboden gestampft. Der Hafen brauchte Arbeiter, und die brauchten Wohnungen. Zwar entstand in der Folge ein lebendiges urbanes Quartier, doch mit dem Ruf der Schmuddelkinder haben die Wilhelmsburger heute noch zu kämpfen.
Zur Rehabilitierung stellt nun die ortsansässige Geschichtswerkstatt ein historisches Mikroskop auf. Die Ausstellung Fährstraße in Wilhelmsburg will in 12 Stationen die Stadtwerdung exemplarisch als Geschichte einer der wichtigsten Verkehrsachsen der Elbinsel beleuchten. In Schaufenstern und im Inneren von Geschäften entlang der Fährstraße zeigen ab Freitag Bilder, Texte und Objekte Facetten vergangenen Alltags vom Beginn der Industrialisierung bis in die 30er Jahre.
Wohnen, Arbeiten, Einkaufen und Zeitunglesen, politische Diskussionen auf dem Bürgersteig, Badehäuser und Fahrräder: Die Themen sind breit gestreut. „Wir wollten diesmal weg von dem typischen Arbeiter-SPD-Milieu-Schwerpunkt“, erklärt Margret Markert, Koordinatorin der Ausstellung. Es soll aber keine Idylle heraufbeschworen werden, auch wenn viele mit einer gewissen Wehmut an die alten Zeiten denken.
Vor allem ehemalige Wilhelmsburger, die nach der Sturmflut 1962 wegzogen und sich „verbessert“haben, sehen ihre alte Heimat mit nostalgischem Blick. Die Dagebliebenen sind realistischer. Bilder und Erzählungen beider Gruppen trugen wesentlich zum Gelingen des Projekts bei. Die Geschichtswerkstatt verband die Quellen der Zeitzeugen mit Adreßbüchern, Bau- und Gemeindeakten und konzipierte daraus die historische Flaniermeile. Auch Schüler und Lehrer der Gesamtschule Wilhelmsburg werden die Uhren rückwärts laufen lassen: Sie spielen zehn alltägliche und merkwürdige Szenen aus der Geschichte der Fährstraße nach.
Die Werkstatt in der Honigfabrik wird am Erlös des Talerverkaufs beteiligt, den das Forum Wilhelmsburg und andere Gruppen zur 325-Jahr-Feier veranstalten. Einen Teil steuert auch die Stadtentwicklungsbehörde bei, die mit einer Werbekampagne das Image des Stadtteils aufwerten will. Inhaltliche Vorgaben wurden aber nicht gestellt, sagt Margret Markert. Daß in Hamburg entgegen der historischen Wahrheit ein neues Renommierviertel hochstilisiert wird, ist deshalb nicht zu befürchten. Barbora Paluskova Fr, 5. bis Di, 30. September, Fährstraße / Straßentheater: Sa, 13. September, 11 Uhr
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