: Mitteleuropa - Eine große Baustelle
■ Die Gefahren einer Region ohne Kopf und Seele, aus: "Corriere della Sera"
DEBATTE
Fast alle Schriftsteller - von Budapest bis Prag, von Warschau bis Wien und Berlin -, die ich in den letzten Monaten getroffen habe, verkünden, erwarten und, in den meisten Fällen, hoffen auf eine Wiederkehr Mitteleuropas.
Einige - Havel zum Beispiel oder Michnik - stellen sich zwischen den kleinen zentraleuropäischen Nationen ein föderatives Bündnis vor, das - wie sie wissen und sagen identisch das wiedergäbe, was einst zu Zeiten der Habsburger existierte. Andere - häufig dieselben - sind nicht fähig, eine Debatte über die Chancen der Demokratie im Osten zu eröffnen, ohne die Sehnsucht nach jenem geschichtlichen Raum einzugestehen, in dem die Menschen, Sprachen, Völker und Kulturen in heiterer, höchst kosmopolitischer Harmonie lebten.
Und andere wiederum, wie der ungarische Regisseur Istvan Szabo haben mir deutlich erklärt, daß diese mitteleuoropäische Identität weder ein Nachtrauern, noch ein Projekt oder eine Vision und ein Traum sei, sondern daß sie hier ist, in ihnen selbst und unter ihnen, wie ein unauslöschbarer Abdruck. „Mitteleuropa wird nicht zurückkehren“, wiederholte mir Szabo. „Es ist unser Schicksal. Unsere Kultur. Es ist wie ein Ethos, eine Art, zur Welt und zu den anderen zu gehören.“
In allen Fällen, unter den Linken wie den Rechten, ist es die gleiche Lobrede auf eine Kultur, deren Untergang ihrer Meinung nach schon lange vor dem Kommunismus die wesentliche Katastrophe herbeigeführt habe. Untergehende Zivilisationen sind bekannter als jene, die zu einer Wiedergeburt fähig sind. Vielleicht bieten gerade die letzteren die wahre Chance einer geistigen Modernität im besten Sinne?
Es stellt sich sicherlich die Frage, was diese These wert ist; welche Wahrheit oder aber Illusion, sinnlose Nostalgie, Chimäre sie verbirgt. Es handelt sich nicht bloß darum, in Erfahrung zu bringen, ob diese „Rückkehr Mitteleuropas“, die beinahe alle Verantwortlichen dieser Region aus Leibeskräften herbeischwören, möglich ist, sondern ob sie überhaupt wünschenswert ist.
Und ohne ein Anbeter des imperialen Prinzps im allgemeinen noch des homo habsburgicus im besonderen zu sein, mit anderen Worten, ohne die dunkle Seite des österreichisch -ungarischen Staates zu ignorieren, glaube ich, diese Rückkehr ist wünschenswert. Auch ich bewundere ein System, das unter anderem das Verdienst hatte, den Bürger nicht gemäß einer Rasse, des Blutes, des Bodens oder des Stammes zu definieren, sondern nach jener reinen, unkörperlichen und abstrakten Idee, die die Zugehörigkeit zum Reich war.
Es bleiben allerdings auf dem Weg dieser Wiedergeburt zwei wesentliche Hürden. Die erste betrifft die jüdische Frage, genauer, die Absenz der Juden. Die Hürde besteht im enormen Vakuum, das die Vernichtung von Millionen von Juden in diesem Gebiet hinterlassen hat. Man spricht von „Rückkehr“, man beschwört eine „Wiederkehr“ herauf, man staunt über das „Wunder“, daß Europa sein Gedächtnis eingefroren hat und es jetzt unversehrt wieder vorfindet. Es ist zweifellos alles wieder da, alles ist erhalten geblieben und kehrt infolgedessen wieder, aber es bleibt diese Ausnahme, die in einer Welt, in der Roth, Kafka, Freud, Kraus und Werfel zuhause waren, nicht unterschätzt werden darf.
Die zweite Hürde heißt Wien, oder genauer, der Untergang Wiens. Es betrifft den spektakulären und sicher irreversiblen Zusammenbruch jener Hauptstadt dieses magischen Raums. Und ich staune, wenn ich sehe, wie man sich bemüht, in der Mitte Europas die Zeichen der Rückkehr zu erspähen; ich staune, wenn ich die zahlreiche Kommentare lese, die die enigmatische Implosion des Kommunismus und seiner Regime provoziert hat; ich staune, daß man sich so wenig um die Reflexion hinsichtlich der Frage um Wien gesorgt hat.
Ein Mitteleuropa ohne Juden also. Ein Mitteleuropa ohne Wien. Ein Mitteleuropa, das im Falle seiner Wiederkehr verstümmelt wäre: ohne Kopf und Seele.Das ist im Grunde genommen das Problem, die eigenartige Herausforderung, die diese Völker in den nächsten Jahren annehmen werden müssen.
Ob sie nun verwirklicht werden kann oder nicht, sie gehört jedenfalls weniger zu ihrem Gedächtnis, als vielmehr zu ihrer zukünftigen Geschichte. Es scheint mir allerdings, daß dabei auch uns Westeuropäern eine Rolle zukommen wird.
Was Frankreich betrifft: Betrachtete man es nicht gerade in den Zeiten des Wiener Glanzes als einen möglichen Partner? Sind nicht jene zahlreich, die uns im heutigen Prag oder Warschau anflehen, ihnen zu helfen, ein Europa zu denken und zu fördern, das nicht unvermeidbar ein germanisiertes Europa ist?
Und Italien: Wäre es nicht absurd, wenn es jene Zeiten vergäße, als Budapest in Fiume seinen Meereshafen hatte? Die Zeiten, in denen das Konzept Mitteleuropa zum ersten Mal in Friaul auf der internationalen Bühne erschien?
Ein großes Projekt, eine große Baustelle für denjenigen unter unseren Intellekteullen, der endlich aus dem langen dogmatischen Schlaf erwacht: der politsche, moralische und kulturelle Wiederaufbau des jungen Kakanien.
Bernard-Henri Levy
Aus: 'Corriere della Sera'
Bernard-Henri Levy, geboren 1949, Schüler von Althusser, Derrida und Lacan, ist Philosoph und Schriftsteller. Bekannt wurde er vor allem durch seine scharfe Kritik an marxistischer Theorie und Praxis („Die Barbarei mit menschlichem Antlitz“, 1977).
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