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■ Die Russen wählen ihren Präsidenten. Wahlen sind für sie aber vielmehr eine Art, ihre Emotionen auszudrücken.Mitteilung an das lästige System

Die russischen Zaren bestiegen den Thron kraft des Rechts ihrer Geburt. Die Generalsekretäre des ZK der KPdSU kamen an die Macht aufgrund von Intrigen und Machtspielen innerhalb des Apparates. Sowohl die Zaren als auch die Generalsekretäre verfügten über eine ungeheure und unkontrollierte Macht. Als Napoleon Rußland auf dem Weg nach Indien durchqueren wollte, mußte er sich mit einem Menschen einigen, mit Zar PawelI. Als die Vereinigten Staaten mit der Sowjetunion den Vertrag über die Begrenzung strategischer Waffen unterzeichneten, mußten sie die Mitglieder des Politbüros und deren engste Mitarbeiter davon überzeugen. Die Meinung der übrigen 200 Millionen hatte keine Bedeutung.

Jetzt entscheiden Millionen einfacher Menschen alles. Am Sonntag werden die Bürger Rußlands ihren Präsidenten wählen. Davon, wen die hundert Millionen russischen Wähler bevorzugen, von ihren Emotionen und Vorurteilen, von der Bereitschaft, sich täuschen und von Illusionen verführen zu lassen, hängt nicht nur das Schicksal ihres Landes ab, sondern des ganzen Planeten.

Man sollte sich nicht damit beruhigen, daß der Führer der russischen Kommunisten und Hauptwidersacher des amtierenden Präsidenten in Wirklichkeit ein Sozialdemokrat westlichen Typs ist und daß sich im Falle seiner Machtübernahme nichts Wesentliches ändern wird. Wenn man sich die Mühe macht, das Programm der Kommunisten und die Bücher von Herrn Sjuganow zu lesen, wird ganz klar, daß wir es nicht mit einer kommunistischen, sondern mit einer klassischen nationalsozialistischen Partei zu tun haben. Die Porträts von Stalin, die bei den kommunistischen Versammlungen auftauchen, sind nicht nur Ausdruck des Extremismus einer Minderheit von Sjuganows Gefolgsleuten. Sjuganow hat selbst mehrmals gesagt, daß es in der Innenpolitik Stalins im allgemeinen keine ernsten Fehler gegeben habe.

Die Kommunisten sind an bestimmte Verpflichtungen gebunden, über die sie sich nicht schon am Tag nach dem Sieg hinwegsetzen können, an Verpflichtungen gegenüber dem militärisch-industriellen Komplex, der Armee und den Sicherheitsdiensten. Sie sind gezwungen, die ausgestellten Wechsel zu bezahlen, und das führt unweigerlich zu einer Inflation. Die katastrophalen Folgen eines Sieges der Kommunisten werden automatische Reaktionen der Bürger und, in der Hauptsache, der Geschäftsleute nach sich ziehen: Eine Überführung der Ersparnisse in Dollar, eine Einschränkung der Investitionen, das Streben, zumindest für einen bestimmten Zeitraum das Land zu verlassen.

Es ist zu einfach, zu sagen, daß die Russen für die Demokratie, die in Rußland sowieso unmöglich ist, einfach noch nicht reif sind. Zu einfach ist es auch, alles der geheimnisumwitterten russischen Seele zuzuschreiben. Die Hinwendung zu solchen primitiven Stereotypen hilft kaum zu verstehen, was derzeit in Rußland vor sich geht.

In Rußland hat die Wahl von Machthabern keine Tradition. Der jahrtausendealte Wechsel von einer Diktatur zur nächsten hat die Menschen gelehrt, daß von ihrer Meinung nichts abhängt. Jetzt, da die Möglichkeit der Wahl existiert, glauben die Menschen im Unterbewußtsein nicht daran, daß es wirklich zu einem Machtwechsel aufgrund ihrer Willensäußerung kommt. Der eigentliche Prozeß der Wahl ist für den einfachen russischen Wähler nicht so sehr die Frage, wem und warum man die Macht anvertrauen soll, sondern vielmehr ein Art, seine Emotionen auszudrücken und dem lästigen System mitzuteilen, was man von ihm hält. Aus diesem Grund interessiert sich niemand für die Programme der Kandidaten. Unsere Wähler glauben niemandem und schon gar nicht demjenigen, dem sie ihre Stimme geben.

Die Stimmabgabe für die Kommunisten im heutigen Rußland ist sowohl ein Ergebnis entsprechender politischer Präferenzen als auch die Folge einer bestimmten Weltlage. Die Kommunisten sehen das Leben des Landes ausschließlich in schwarzen Farben. Die Welt ist grausam, ungerecht und chaotisch. Wohlstand und Macht sind ungerecht verteilt. Erfolg und Macht kann man nur mit Verbrechen und Gewalt erreichen. Gleichwohl versteht auch der Bürger, der für Jelzin stimmt, daß es im Leben viel Ungerechtigkeit und Schlechtigkeit gibt. Jedoch, die Wähler Jelzins sehen nicht nur das Schlechte, sondern auch das Gute: Es gibt weniger Stabilität, dafür aber mehr Freiheit, es ist alles teuer, aber man muß dafür nicht mehr in der Schlange stehen, man kann seine Arbeit verlieren, dafür aber auch sein eigenes Geschäft aufmachen. Die Wähler Jelzins begreifen die negativen Momente unseres heutigen Lebens als Symptom des Übergangs mit der Chance darauf, daß diese Periode irgendwann endet.

Für die Kommunisten stellt sich das Unglück der gegenwärtigen Existenz als beabsichtigtes Ziel der Reformer und Jelzins dar, die eine solche ungerechte und grausame Welt errichten wollten. In dieser grausamen und schrecklichen Welt fühlen sich die Wähler Sjuganows heimatlos. Obwohl sie ihren Führer nicht bewundern, werden sie trotzdem für ihn stimmen, wohl wissend, daß das Leben zwar schwerer wird, dafür aber humaner und gerechter. Die Stimmabgabe für Sjuganow ist für seine Anhänger nicht nur eine politische, sondern eine moralische Wahl.

Der Favorit im Wahlrennen ist Boris Jelzin. 1991 wurde er noch verehrt, mit ihm wurde gelitten, mit ihm identifizierten sich die Menschen. Er war nicht nur ein Präsident, er war ein Führer. Begeisterung und Sympathie gibt es für Jelzin heute nicht mehr. In den Augen seiner Landsleute ist er nur noch derjenige, der die Kraft und Eigenschaften besitzt, um scharfe Veränderungen nicht zuzulassen. Die Menschen sind müde, und so vereinigt heute besonders das Streben nach Ruhe einen großen Teil des Landes um Jelzin.

Wenn er gewinnt, gibt es keinen Grund, etwas Gutes zu erwarten. Jedoch, Katastrophen wird es auch nicht geben. Die Menschen werden fortfahren, sich langsam an die neuen Bedingungen anzupassen, und in vier Jahren werden neue Wahlen stattfinden. Bei diesen Wahlen wird es schon nicht mehr darum gehen, die Kommunisten um jeden Preis zu stoppen. Diejenigen, die heute für Jelzin stimmen, teilen sich in verschiedene politische Gruppen und werden entweder eine russische Variante von Kohl oder eine russische Variante von Lafontaine wählen. Und die Kommunisten werden einen ihnen zustehenden Prozentsatz an Stimmen erhalten. Leonid Gosman

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