Mitmachtheater "Hades-Fraktur": Zungenküsse mit Dionysos
Die Videoüberwachung und der Tod: In einem leerstehenden Hotel in Köln hat die Performance-Gruppe Signa das Reich von Hades aufgebaut und bringt ihre Besucher in moralische Bedrängnis.
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Ganz am Ende, gegen 1 Uhr in der Nacht, kommt es dann doch noch zur großen Aufregung. Das ist aber schon draußen, vor den Toren des Hades, in dem an diesem Abend die Zuschauer als Mitakteure fünf lange Stunden zu verbringen hatten. Als Spielstätte für die minutiöse Ausgestaltung seiner Variante der Unterwelt hatte sich das dänisch-österreichische Künstlerduo Signa alias Signa Sørensen und Arthur Köstler das Kölner Hotel Timp ausgesucht, eine vor etwa einem Jahr außer Betrieb genommene Travestie-Bar mit Ruf zwischen Tourikitsch und Underground im Erdgeschoss eines mehrstöckigen Hotel-Etablissements am Heumarkt, am Rand der Altstadt. "Die Hades Fraktur" heißt das neue Projekt, das Signa gemeinsam mit dem Kölner Schauspiel produziert hat.
Die Aufregung entstand in einer Kollison von Kunst und Wirklichkeit, die man angesichts der Ästhetik von Signa kaum als zufällig bezeichnen kann: Die meisten Zuschauer standen nach ihrem Hades-Trip noch vor der Spielstätte, als ihnen von oben aus den Fenstern ein paar kaum bekleidete Mädchen hinterherbrüllten: "Tut doch was! Was seid ihr denn für Menschen! Bitte, nehmt uns mit!" Nachtschwärmer blieben stehen.
Aus den Nachbarkneipen kamen Türsteher angelaufen, die wissen wollten, ob das jetzt hier eine Show sei oder Ernst und was überhaupt mit den Frauen da oben los sei. Sie drohten, die Polizei zu holen: Im Timp sei kein Licht, der Lärm würde also ihnen angelastet! Dass Kunst und Wirklichkeit sich so überlappen, hat mit dem einen Fluchtpunkt der Ästhetik Signas zu tun: die Aufladung der dargestellten Welt mit Realitätssinn bis an den Punkt, wo sie unserem Eindruck nach tatsächlich Realität zu werden scheint. Der andere Fluchtpunkt ist aber die durchgängige Künstlichkeit und Vermitteltheit der Signa-Welten. An diesem Gegensatz reiben sich die Besucher dieser Performance, er macht ihre seltsame Faszination aus. Und doch gelang dieser Abend nicht so überzeugend wie die "Erscheinungen der Martha Rubin", der Signa-Produktion von 2007, die letztes Jahr zum Berliner Theatertreffen eingeladen war.
Zu Beginn der "Hades Fraktur" werden die etwa 40 Zuschauer in sieben Gruppen eingeteilt. Eine Gruppe kann Sieger werden, wenn sie genügend Punkte sammelt. Der Preis: Die Gruppe darf eine der sieben im Hades gefangenen Mädchen für eine Nacht lang nach draußen befreien. Die Mädchen betteln um ihr Leben, es geht ihnen hier unten nicht gut. Deshalb das Geschrei derer, die am Ende nicht rausdürfen.
Frappierend ist erneut der Aufwand der Ausstattung von Thomas Bo Nilsson und Signa Sørensen. Die Gruppe hat das ganze Hotel mit zahlreichen Zimmern bis ins Detail in eine Welt verwandelt, die irgendwo zwischen Puffambiente und 70er-Jahre-James-Bond-Technik oszilliert. Unten befindet sich die alte Hotelbar, wo die untoten Mädchen sich zur Begrüßung des Publikums an metallischen Tabledancestangen räkeln, kaum bekleidet und deutlich unglücklich unter dem Kommando von Persephone (Sørensen) und ihrem Gemahl Hades (Köstler). Darüber die vier Etagen mit den auf kitschige Schäbigkeit getrimmten Zimmern.
Dort besuchen die Gruppen unter der Leitung einer antiken Führerfigur im Laufe des Abends die gefangenen Mädchen. Auf den Zimmern wird das Publikum dann in moralisch prekäre Entscheidungssituationen versetzt. In der Paris-Gruppe des Rezensenten zum Beispiel wurde ein Mitspieler genötigt, die um Befreiung bettelnde Frau zu schlagen - oder er, Paris, täte es ungleich brutaler. Verfügen kann diese Dilemmata Hades, der per Videoüberwachung Einblick in jedes Zimmer hat und sich in jedes über Lautsprecher verbal einschalten kann.
Wie nicht anders möglich, ist der Einsatz der Signa-Darsteller groß, unter die sich diesmal einige Ensemblemitglieder des Kölner Schauspiels gemischt haben. Dank ihnen kommen Zuschauer, die es wirklich wissen wollen, in dieser Zwischenwelt auf ihre Kosten. Zungenküsse mit Dionysos zum Beispiel, der die Gäste in seinem Gemach gerne in tiefschürfende Gespräche verwickelt, sind durchaus drin. Aber eben nicht nur in diesen Extremen kann man die entscheidende Signa-Erfahrung machen: Man weiß und sieht, das alles hier ist Fake. Aber es hat eine so hohe simulatorische, subtil libidinöse Intensität, dass es uns irritiert und lockt zugleich.
Dennoch krankt, verglichen mit der bis zu 84 Stunden erlebbaren schäbigen Wohnwagensiedlung von "Martha Rubin", die neue Produktion an ihrer zeitlich und inhaltlich zu engen Konzeption. Das Ziel ist für die Gruppen früh so klar wie banal: möglichst viel gewinnen, und zwar Casino-Jetons, um ein Mädchen befreien zu dürfen. Diese schlichte Grundkonzeption versetzt dem Abend zu deutlich einen Dämpfer von anspruchslosem Mitmachtheater. Sich einzulassen, ist natürlich (und zu Recht) die Grundbedingung der Arbeiten von Signa. Man darf aber erwarten, dass man dazu nicht allzu plump genötigt wird.
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