■ Mit der US-Chemieindustrie auf du und du: Der tägliche Störfall
Innerhalb von drei Jahren ereigneten sich in den 66.000 US- amerikanischen Chemiefabriken mehr als 23.000 Unfälle – etwa einer pro Stunde. Jeder sechste Amerikaner lebt so dicht an einem gefährlichen Werk, daß bei einem „worst- case Szenario“ Gefahr für Leib und Leben besteht. AnwohnerInnen, Gemeinden und ArbeiterInnen haben nur in den seltensten Fällen Zugang zu Informationen über das bestehende Gefahrenpotential, eine Informationspflicht für die Betreiber der Anlagen existiert nicht. Das sind die wichtigsten Ergebnisse einer Studie der US-Forschungsgruppe Public Information Research Group (PIRG), in der Gefahren für die amerikanische Bevölkerung durch Chemieunfälle analysiert werden. Dafür wurden Unfallszenarien der 7.600 gefährlichsten US-Anlagen erstellt und die häufigsten Störfallursachen ermittelt.
Sieben Firmen werden in der Studie als Hauptverursacher der Risiken genannt, darunter als einziges ausländisches Unternehmen der deutsche Bayer- Konzern. Die Studie dokumentiert zahlreiche drastische Fälle: In Kalifornien etwa mußten nach einer Freisetzung von Oleum mehr als 20.000 Menschen in Krankenhäusern behandelt werden. Die giftigen Dämpfe waren mehr als 20 Kilometer weit getrieben, die Firma hatte zuvor von einem maximalen Gefahrenbereich von einem Kilometer gesprochen. Im Bundesstaat Wisconsin gelangten 50 Tonnen Benzol in einen Fluß: Es entstand eine 30 Kilometer lange Giftwolke, und 40.000 Personen mußten evakuiert werden. In Pennsylvania traten 125 Tonnen eines mit Schwermetallen belasteten Ätzmittels aus: 1.500 AnwohnerInnen wurden schwer vergiftet.
Ebenfalls als hochgefährlich werden von der Forschungsgruppe Gefahrguttransporte eingeschätzt, die für ein Viertel aller Giftfreisetzungen verantwortlich gemacht werden. Allein im Großraum Chicago werden täglich eine Million Tonnen toxischer Chemikalien auf Straßen und Schienen transportiert, ohne daß diese Bewegungen zentral erfaßt würden. Nach Unfällen vergeht viel Zeit, bis Notfallmaßnahmen ergriffen werden, da keine Vorsorgepläne existieren.
Schon 1990 kam die amerikanische Umweltbehörde EPA zu dem erschreckenden Ergebnis, daß sich in den USA zwischen 1980 und 1990 fünfzehn Unfälle ereigneten, bei denen mehr giftige Chemikalien austraten als bei dem Unfall von Bhopal (dort kamen 1984 nach einer Explosion in einer Pestizidfabrik mehr als 2.000 Menschen in der Umgebung der Fabrik ums Leben). Nur schnelle Evakuierungen und Zufälle wie günstige Windrichtungen hätten in den USA solche Katastrophen bisher verhindert.
Im Sinne einer Gefahrenminimierung schlägt PIRG unter anderem vor, daß alle Betreiber periodisch die Risiken ihrer Anlagen veröffentlichen und mit denen alternativer Produktionswege vergleichen müssen. Außerdem sollten Stoffströme quantitativ und qualitativ veröffentlicht werden und alle Unfallszenarien frei zugänglich sein.
Die Situation in Deutschland ist wegen der dichteren Besiedlung eher noch gefährlicher als in den USA. Philipp Mimkes
Der Autor ist Mitglied des Coordination gegen Bayer-Gefahren e.V.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen