■ Mit dem Naziparagraphen 175 wurden Schwule bis Ende der 60er Jahre verfolgt. Eine Rehabilitation ist überfällig: Jagdrevier Wirtschaftswunderland
Daß es die Stunde Null am 8. Mai 1945 nicht wirklich gegeben hat, ist inzwischen fast zum Allgemeinplatz geworden. Es fällt jedoch nach wie vor schwer, die Kontinuitäten und das Erbe der Bundesrepublik Deutschland aus der NS-Zeit anzuerkennen. Nur selten springt jenes Erbe der braunen Vergangenheit so unkaschiert ins Auge wie bei der Homosexuellenverfolgung. Keine öffentliche Hand streckte sich den homosexuellen Überlebenden entschuldigend entgegen. Erst 1985 erinnerte ein ranghoher Politiker – Bundespräsident Richard von Weizsäcker – an das Leid der Rosa-Winkel- Häftlinge.
Seit den achtziger Jahren kommt ans Licht der Öffentlichkeit, wie die Nazis in der Sexualpolitik das Rad der Geschichte zurückgedreht hatten. Zur Erinnerung: Gegen Ende der Weimarer Republik war – dank des Engagements des jüdischen Sexualwissenschaftlers Magnus Hirschfeld, der Homosexuellenbewegung und zahlreicher Prominenter – der zwar gültige, aber selten angewandte Paragraph 175 fast getilgt. Doch die NS-Machtübernahme definierte Homosexuelle sofort zu Staatsfeinden erster Klasse. Im NS-Jargon waren sie „bevölkerungspolitische Blindgänger“.
Die Justiz stand mit Gefängnis, Zuchthaus und Sicherheitsverwahrung zur Abschreckung und Sühne bereit; Psychiater therapierten die „leichteren Fälle“. SS-Chef Himmler glaubte, nicht therapiewilligen Schwulen mittels Umerziehung durch Arbeit in den KZs beizukommen. Später favorisierte er eine radikalere Lösung: Schwule sollten per Kastration „zu nützlichen Gliedern der Volksgemeinschaft“ gemacht werden. Zum Glück brach das Dritte Reich vor der Realisierung dieser Pläne zusammen.
Soweit die Fakten zur NS-Zeit. Doch schamhaft verschwiegen wurde und wird, daß es für Homosexuelle die besagte Stunde Null nicht gab. Der 1935 entscheidend verschärfte Paragraph 175 blieb auch unter der Adenauer-Regierung gültig.
Zwar drohte der junge bundesrepublikanische Staat nicht mehr mit Konzentrationslager und Hungertod, doch die Statistik spricht eine deutliche Sprache: Zwischen 1953 bis einschließlich 1965 wurden insgesamt 98.700 „Täter“ nach Paragraph 175 ermittelt, ähnlich viele, wie Hitlers Justizstatistik für die zwölf Jahre des NS-Regimes auswies. Männer, die den Rosa Winkel in Hitlers Konzentrationslagern getragen hatten, wurden erneut zu Zuchthaus- und Gefängnisstrafen verurteilt.
Viele Homosexuelle, die auf ein besseres Leben nach 1945 gehofft hatten, konnten es nicht begreifen: Die junge Republik hatte nur einige Vokabeln ausgetauscht – ansonsten knüpften die Gesetzgeber an die Ideologie der Nazis an. Dort, wo die Nationalsozialisten mit Begriffen wie „Volksgemeinschaft“ und „gesundes Volksempfinden“ ihre Homosexuellenverfolgung begründeten, wurde nun die christliche Sozialethik und die Familienpolitik ins Feld geführt.
Die wenigen Reformbemühungen in den fünfziger Jahren, etwa vom 39. Deutschen Juristentag (1951) oder von der Deutschen Gesellschaft für Sexualforschung, verhallten ungehört. Allen Kritikern hielt 1957 das Bundesverfassungsgericht barsch entgegen, das Nazi-Gesetz 1935 sei „ordnungsgemäß zustandegekommen“ und leugneten jegliche rassistische Komponente. Kein Hinweis auf die rassenhygienischen und bevölkerungspolitischen Implikationen der Verschärfung des Paragraphen 175 im Jahre 1935, statt dessen Fortschreibung des Nazirechts.
Noch 1962 schrieb ein regierungsamtlicher Strafrechtsentwurf direkt bei Himmler ab, der beim Umsichgreifen von „geschlechtlicher Unzucht“ die „Entartung des Volkes“ und den „Verfall seiner sittlichen Kräfte“ an die Wand malte. Die „sittenbildende Kraft des Strafgesetzes“ müsse „einen Damm gegen die Ausbreitung eines lasterhaften Treibens“ errichten, das, „wenn es um sich griffe, eine schwere Gefahr für eine gesunde und natürliche Lebensordnung im Volke bedeuten müsse“.
Was sich inzwischen wie eine Satire liest, trieb in den Adenauer- Jahren viele Männer in Verzweiflung, ja in den Tod. Alle, die nach den Hitler-Jahren auf Wiedergutmachung oder nur ein Leben in Frieden gehofft hatten, waren weiterhin Freiwild bürgerlicher Wohlanständigkeitsvorstellungen.
Junge Polizeibeamte verbrachten selbst auf dem Dorf nächtelang observierend vor den Fenstern homosexueller Männer: Szenarien, die deutlich machen, warum homosexuelle Männer in großer Zahl nach dem Schock des Dritten Reiches einen Schlußstrich unter ihr homosexuelles Leben zogen und in die „sexuelle Emigration“ gingen. Viele heirateten, nicht wenige ließen sich von Ärzten zur Kastration überreden. Viele schwule Männer waren nicht mehr fähig, den Streß des Versteckspiels auszuhalten. Allein in Saarbrücken zählte die Betreiberin eines einschlägigen Lokals in den 60er Jahren nicht weniger als 51 Selbstmorde. Es dauerte bis 1969, ehe der Bundestag die Liebe zwischen erwachsenen Männern der Zuständigkeit des Staatsanwalts entzog.
Wie lange dauert es noch, bis homosexuellen Männern Wiedergutmachung widerfährt und, ebenso wichtig, bis jene Minderheit wirklich als Opfergruppe nicht nur der NS-Zeit anerkannt wird? Noch 1986 schloß sich die Bundesregierung in ihrem „Wiedergutmachungsbericht“ der alten Lesart an: die Bestrafung homosexueller Betätigung sei weder NS-Unrecht noch rechtsstaatswidrig.
Von den etwa 10.000 bis 15.000 schwulen KZ-Opfern, die überhaupt entschädigungsberechtigt waren, trauten sich bis zum 21. 12. 1959 (Fristende) ganze 14 Männer, ihr Schicksal im Dritten Reich den bundesdeutschen Behörden aktenkundig zu machen. Doch selbst diese verständliche Angst vor neuen Repressalien und dem Verlust der bürgerlicher Existenz wertete die Bundesregierung gegen die Opfer: Jene niedrigen Meldezahlen galten als Beweis für eine nur geringe NS-Verfolgung.
Die Zeit zum Umdenken ist reif. Doch sollte man in die Entschuldigung gegenüber den Rosa-Winkel- Häftlingen auch jene Opfer einbeziehen, die nach 1945 noch nach dem Paragraphen 175 bestraft worden sind. Burkhard Jellonnek
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