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berliner szenenMit Stolzzu nichts gebracht

Ein Abend ganz nach Raphaels Geschmack. Er würde Loafers und einen Blazer tragen und sich einen besonders akkuraten Scheitel gelen. Wo konnte er sich in Berlin noch elegant anziehen, ohne als Gentrifizierer, als zugezogener Neureicher belächelt zu werden? Wo wäre es noch möglich für ihn, ohne aufzufallen, ohne die entsprechenden Kontakte, die Kleidung zu tragen, mit der er groß geworden war? So war es also endlich wieder einmal so weit: Eine Großkanzlei hatte zum Sommerfest geladen und ein Gaming-Start-up ob einer 20-Millionen.-Euro-Investition zur Party. Aus der Kanzlei kannte er einen der Anwälte aus alten Tagen, als sie als junge Erwachsene noch Zeit fürs Nichtstun und Rumhängen hatten, bevor der berufliche Aufstieg und die Familie das unmöglich gemacht hatten. Bei dem Start-up kannte er die zwei 29-jährigen isländischen CEOs, denen er vor Jahren etwas Deutsch in einem Hinterzimmer ihres 500 qm großen Büros beigebracht hatte. Er war lange vor ihnen in diese florierende Stadt gezogen und hatte es mit einigem Stolz zu nichts gebracht.

Es geschah gar nichts. Leute, die ähnlich wie er angezogen waren, standen herum, tranken, sprachen miteinander, und heißer Wind blies durch die Fenster in die Räume. Raphael trank kühle Drinks und aß von einem Catering-Unternehmen herumgereichte Scheiben aus Rettich mit Fischschäumchenkrone, Grünkernsalat mit Lachs aus kleinen Einweckgläsern und drei große Lappen Leberkäse mit Reis und Sauce. Er sprach mit fast niemandem und versprach sich, nicht mehr ohne jemanden zu kennen auf Einladungen zu gehen. Es war wie verhext. „Ab einem bestimmten Alter lernt man niemanden mehr kennen“, dachte sich Raphael und schlich geknickt nach Hause, hängte seinen verschwitzten Blazer in den Schrank und legte sich schlafen.

Gabriel v. Loebell-Herberstein

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