Missbrauch: Tatort Familie

Trotz Canisius-Kolleg oder Odenwaldschule - am häufigsten werden Kinder immer noch in der Familie missbraucht. Die Nähe erleichtert den Zugriff auf das Opfer.

Heile Familie? Bild: missx/photocase.com

BERLIN taz | Am Mittwoch hat sich Bundeskanzlerin Angela Merkel in die Debatte über sexuellen Missbrauch an Kindern eingeschaltet. Missbrauch von Kindern und Schutzbefohlenen sei ein "verabscheuungswürdiges Verbrechen", sagte die CDU-Vorsitzende im Bundestag. Sie forderte "Klarheit und Wahrheit über alles, was passiert ist". Sie machte zudem darauf aufmerksam, dass die Diskussion nicht auf eine Gruppe beschränkt sein dürfe.

Das Thema wurde in den vergangenen Wochen vor allem als Phänomen in Einrichtungen der katholischen Kirche debattiert. 75 bis 80 Prozent der Missbrauchsfälle ereignen sich aber in der Familie, meint Heinz Hilgers, Präsident des Deutschen Kinderschutzbundes. "Das wird momentan völlig ausgeblendet", sagte Hilgers der taz.

12.052 Fälle von Missbrauch von Minderjährigen wurden dem Bundeskriminalamt zufolge im Jahr 2008 zur Anzeige gebracht; 82 Prozent davon wurden aufgeklärt. Hinzu kamen 1.615 Fälle von Missbrauch an älteren Schutzbefohlenen. Außerdem entblößten sich 2.304 Mal Männer vor Kindern. Die Dunkelziffer solcher Delikte liegt jedoch um einiges höher: Opferberatungsstellen wie Wildwasser, Zartbitter, Tauwetter gehen davon aus, dass 18 Prozent der Mädchen und 7 Prozent der Jungen von sexuellem Missbrauch betroffen sind.

Diese Fallzahlen, die in der Vergangenheit immer mal wieder angezweifelt wurden, bestätigt sowohl der Kinderschutzbund als auch das Bundesfamilienministerium.

Sie beruhen auf der Studie "Gewalterfahrungen in der Kindheit - Sexueller Missbrauch, körperliche Misshandlung und deren langfristige Konsequenzen" von Peter Wetzels. Die 1997 durchgeführte Untersuchung ist bislang die einzige repräsentative in diesem Bereich in Deutschland. Internationale Studien beziffern sexuellen Missbrauch höher: bis zu 36 Prozent bei Mädchen und bis zu 29 Prozent bei Jungen.

Die Spannbreite beim Missbrauch reicht vom Anschauen von Sexvideos mit Kindern über Körperkontakt bis hin zu Vergewaltigung. Am häufigsten betroffen sind einer Untersuchung der Familienforscherin Anette Engfer zufolge 5- bis 14-Jährige. Missbrauch im Säuglingsalter ließe sich am schwersten nachweisen, sagte Sabine Herzig vom Informationszentrum Kindesmisshandlung/Kindesvernachlässigung in München.

"Man darf die verschiedenen Missbrauchsfälle aber nicht gegeneinander ausspielen", sagt Iris Hölling vom Verein Wildwasser in Berlin: "Missbrauch bleibt Missbrauch." Die Täter nutzen die Nähe zu Kindern und deren Vertrauen aus. "Es geht neben dem sexuellen Übergriff vor allem um Macht", sagt Hölling: "Ein Erwachsener missbraucht seine Autorität gegenüber einem Kind." In der Familie seien die Täter häufig der Vater, der Stiefvater, der Onkel - Personen, die das Kind sehr gut kenne. Diese direkte Nähe mache es für das Kind schwer, über sexuelle Übergriffe zu sprechen. "Die Täter implementieren im Kind Schuldgefühle, indem sie ihm verbieten, über das Erlebte zu sprechen. Oder sie machen ihm Geschenke und aus dem Missbrauch ein gemeinsames Geheimnis."

90 Prozent der Täter sind Männer, 10 Prozent Frauen. Anders als bei Kindesmisshandlung, die häufiger in unteren sozialen Schichten vorkommt, gibt es sexuellen Missbrauch in allen Milieus.

Am 23. April startet der runde Tisch zum Thema Missbrauch. Entgegen den ursprünglichen Plänen wird es nur noch einen runden Tisch geben; die Federführung übernimmt Familienministerin Kristina Schröder.

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