Missbrauch in der katholischen Kirche: Blick in den Abgrund
Wissenschaftler haben den ersten Teil einer aufwendigen Analyse zu sexuellem Missbrauch vorgelegt – im Auftrag der Kirche.
Die Analyse, in die zu einem Drittel jüngere deutsche Studien einflossen, gehört zum Forschungsprojekt zu sexuellem Missbrauch in der katholischen Kirche in Deutschland. Die Aufarbeitung ist eine Folge des Missbrauchsskandals, der 2010 am Berliner Canisius-Kolleg ans Licht kam und eine Lawine ins Rollen brachte. Das Projekt startete holprig. Die Bischofskonferenz hatte den Auftrag zuerst an das Kriminologische Forschungsinstitut Niedersachsen gegeben, es dem damaligen Leiter Christian Pfeiffer aber dann wieder entzogen. Pfeiffer sprach in Interviews von Kontrolle und Zensur.
Die neue Recherche in deutschen Diözesen soll bis Ende 2017 laufen und hat gerade erst richtig begonnen. Die Forscher wollen von Personalakten bis zu Geheimarchiven Dokumente zu sexuellem Missbrauch sichten. „Wir kriegen von den Diözesen bisher alles, was wir anfordern“, sagte Dieter Dölling vom Kriminologischen Institut der Universität Heidelberg.
Die Frage ist, ob die Akten-Methode die volle Wahrheit ans Licht bringen kann. 1.700 Menschen haben bei der katholischen Kirche in Deutschland inzwischen Anträge auf Entschädigung für sexuellen Missbrauch gestellt und ihre Peiniger genannt. Oft gebe es in den Personalakten aber keine Hinweise auf sexuelle Übergriffe, sagt Bischof Stephan Ackermann, Beauftragter der Bischofskonferenz für Fragen sexuellen Missbrauchs. Aktenvernichtung in größerem Stil habe es dabei nicht gegeben.
Totschweigen statt Handeln
Im Rückblick liegt das Versagen wohl eher am Desinteresse der Kirche, genau hinzuschauen. Es habe Fälle gegeben, bei denen die Staatsanwaltschaft bei Missbrauchsvorwürfen gegen Geistliche ermittelte, die Kirche aber keinen eigenen Prozess anstrengte, sagt Ackermann. Geistliche wurden wohl auch in andere Diözesen versetzt, ohne dass dort jemand etwas von Verdachtsmomenten zu Missbrauch erfuhr. Totschweigen statt Sanktionen oder Hilfsangeboten – in dieser Umgebung konnten Täter weitermachen.
Um ein genaueres Bild für Deutschland zu bekommen, wollen die beauftragten Wissenschaftler neun Diözesen exemplarisch besonders unter die Lupe nehmen: Bamberg, Berlin, Essen, Freiburg, Hamburg, Magdeburg, Paderborn, Speyer und Trier. „Es geht um Erkenntnisse, welche Strukturen Missbrauch begünstigt haben“, sagt Bischof Ackermann. Es geht aber nicht um Namensnennung, Strafverfolgung oder Diözesen-Bashing.
Es ist vor allem diese Klausel, die Opferverbände an dem Forschungsprojekt zweifeln lassen. „Es ist für die Betroffenen absolut inakzeptabel, dass Bischöfe und kirchliche Vorgesetzte, die Missbrauchstaten unter der Decke gehalten und Täter geschützt haben, nicht genannt werden sollen“, sagt Matthias Katsch für den „Eckigen Tisch“. Im Verband haben sich Betroffene aus Jesuiten-Einrichtungen wie dem Canisius-Kolleg zusammengeschlossen.
Zu einem Neuanfang gehöre die Übernahme von Verantwortung für die Vergangenheit, sagt Katsch. Für ihn gehörten die Nennung der Kirchenmänner, die versagt hätten, und eine ehrliche Diskussion über die innere Struktur der Kirche dazu – neben einer angemessenen Entschädigung für die Opfer.
Die Wissenschaftler haben in der Metaanalyse bereits Folgen für die Opfer der Kirchenmänner zusammengetragen. Dazu zählen Alpträume, Angststörungen, Panikattacken, ein gestörtes Sexualverhalten, Verschlossenheit und Einzelgängertum. Die Forscher wollen für ihre Studie weitere Interviews mit Tätern und Opfern in Deutschland führen.
Was bisher aus der Metaanalyse bekannt ist, gibt bereits einen Blick in den Abgrund frei: Unter 328 Tätern machten die Forscher 97 Mal emotionale und sexuelle Unreife aus, 71 Mal Persönlichkeitsstörungen und 58 Mal Merkmale von Pädophilie.
Strukturen begünstigen Missbrauch
Bisher vermuten andere Studienautoren, dass die Machtstrukturen innerhalb der katholischen Kirche das Ausleben von Machtgefühlen von Tätern begünstigen können. Dazu komme der Stillstand bei der kirchlichen Sexuallehre, eine lustfeindliche und rigide kirchliche Sexualmoral samt Tabuisierung von Körperlichkeit und Sexualität. Auch eine zu lasche Vorauswahl der Priesteranwärter gehören zu den Vermutungen – auch wegen mangelndem Interesse am Priesterberuf überhaupt.
Ackermann geht davon aus, dass der Skandal die Kirche seit 2010 geläutert hat. Das Schuldbewusstsein sei gewachsen. „Sexuelle Übergriffe sind keine Tätschelei, sondern ein Verbrechen“, sagt er. „Ungeachtet, dass ein Täter das versucht kleinzureden.“
Matthias Katsch glaubt hingegen nicht, dass die Kirche aus den Missbrauchsfällen gelernt hat. „Die nichtlebbaren Vorschriften zur Sexualität von Priestern und Laien erzeugen ein permanente Doppelmoral“, sagt er. Und bisher wende die Kirche noch mehr Geld für Anwälte und PR auf als für Missbrauchsopfer.
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