Miss Kittins neues Doppelalbum: Schizophrener Schachzug
Auf Miss Kittins „Calling from the Stars“ untermalen einprägsame Lyrics new-wavige Popmelodien. Auf CD 2 wabern esoterische Ambientklangwolken.
Becks letztes Album „Song Reader“ erschien als reine Notenpartitur: Von den Songs konnte sich nur einen Eindruck machen, wer selbst zum Instrument griff. Björks „Biophilia“ wiederum offerierte ein ausuferndes Universum an audiovisuellen Einfällen: Es erschien als App für das iPad – eine endlose animierte Astralreise durch Lieder, Remixe, Spiele, Texte, Filme.
Auch Miss Kittin hat sich für ihr neues Album „Calling from the Stars“ etwas Besonderes ausgedacht. Neu erfunden hat sie sich nicht, aber immerhin zeigt sie nun eine bisher unbekannt gebliebene Seite von sich. Klar, sie ist nicht ganz so berühmt wie Björk oder Beck. Aber am Himmel der elektronischen Musik ist Miss Kittin ein heller Stern. Außerdem findet sie auf die allgemein sinkenden Plattenverkäufe konzeptionelle Antworten.
Miss Kittin, mit bürgerlichem Name Caroline Hervé, gelang 1998 der Durchbruch mit ihrem Track „1982“, den sie mit ihrem Musikerkollegen The Hacker veröffentlichte. Ihr Markenzeichen hat sich seither bewährt: Unschuldig derbe Songzeilen mit lakonisch kühlem, französisch akzentuiertem Gesang, gepaart mit leichtgängigen Synthie-Popmelodien und minimalen Technobeats.
Elektroklänge mit Glamrock-Attitüde
Über die Jahre begeistert die 39-Jährige zudem mit ihrer Gabe, verschiedenste Musikrichtungen zu einem Ganzen verschmelzen zu lassen – sowohl in den eigenen Produktionen als auch am DJ-Pult. Straighte, kalte Elektroklänge vereint sie mit Glamrock-Attitüde. Nicht umsonst zählt sie zu den gefragtesten Techno-DJs der Welt.
Nun, nach vierjähriger Produktionspause, erscheint „Calling from the Stars“, ein Doppelalbum. Es ist weder so ausufernd wie „Biophilia“ noch so radikal wie „Song Reader“. Miss Kittins Musik ist sehr persönlich. Alle Songs habe sie erstmals alleine produziert, schreibt sie einleitend im CD-Booklet. Und obwohl die Künstlerin im Laufe ihrer Karriere schon beeindruckend viele Facetten von sich zeigte, überrascht der Neuling mit einem fast schizophrenen Schachzug: „Die erste CD ist typisch Miss Kittin“, sagt die Künstlerin über sich selbst. Der Sound auf der zweiten CD geht in Richtung Ambient. „Ein Stil, den ich immer geliebt, aber bis jetzt selbst nie veröffentlicht habe.“
Und so liefert Album 1 tatsächlich ein freudiges Wiedersehen mit einer liebgewonnenen Miss Kittin: Einprägsame Lyrics, mal peitschende, mal von fern hallende Beats, während synkopische HipHop-Takte new-wavige Popmelodien untermalen. Das ergibt hartnäckige Ohrwürmer, ein Kribbeln im Tanzbein und rundum gelungenen elektronischen Pop. Zu jedem der Tracks liefert Miss Kittin kurze, persönliche Texte. Sie erzählen Anekdoten, berichten von Inspirationsquellen, geben zu jedem Song ein Urteil ab und offenbaren den Zustand ihrer Gefühlswelt.
So trauert sie in „Night of Life“ um ihren verstorbenen Großvater. Ihre Coverversion von „Everybody Hurts“ findet R.E.M.-Sänger Michael Stipe angeblich sogar besser als seine Originalfassung, während sie selbst die Bassline auf „Maneki Neko“ für unoriginell hält.
Am Strand von Goa
Die zweite CD hingegen wabert sich durch esoterische Ambientklangwolken, wirkt introspektiv, klischeehaft, manchmal gar etwas hippiesk verzopft: Als wäre Miss Kittin am Strand von Goa hängen geblieben.
„Tamarin Bay“ soll sie tatsächlich geschrieben haben, nachdem sie bei Sonnenaufgang auf Mauritius mit Delfinen geschwommen war. Der Song klingt allerdings wenig erhebend, als würde jemand beliebig auf den Tasten eines Synthesizers herumdrücken. Im Vergleich dazu wirkt der verspielte Track „Mind Stretching“ schon stringenter, reflektierter.
Wenn nicht alle Stücke der zweiten CD überzeugen, so liegt das vielleicht daran, dass sie ursprünglich als Nebenprojekt unter anderem Namen erscheinen sollte. Beim Gesamtgefühl gehe es ihr nicht um das für sie typisch aggressive Miss-Kittin-Gehabe, gesteht sie, sondern „um Raum, Farben, Formen, Landschaften und Abstraktionen“. Man schließt einfach die Augen und sieht, was man möchte. Soll das ein meditativer Sound sein, der zum Träumen anregt? Auch das ist Miss Kittin.
Miss Kittin: „Calling from the Stars“ (Wagram/Indigo)
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