Musikalische Nostalgiemaschinen: Weltuntergang mit Hingabe

Auf ihren neuen Alben schwelgen Boards of Canada und Zomby überzeugend in einer Popvergangenheit – die sie nicht aus eigener Anschauung kennen.

Die Musiker von Boards of Canada. Bild: BOC Promo

Mustererkennung, erster Teil: Mitte April findet jemand am Record Store Day eine bislang unbekannte Maxi des schottischen Elektronikduos Boards of Canada. Er spielt sie ab und hört einen Synthloop mit einer Roboterstimme, die eine Zahlenfolge vorliest. Später tauchen weitere Zahlenfolgen auf – in einem Werbeclip, im Banner einer Internetseite. Zusammen ergeben sie einen Code: Boards of Canada; neues Album: „Tomorrow’s Harvest“; Stream am Montag.

Mustererkennung, zweiter Teil: Über seinen //twitter.com/ZombyMusic:Twitter-Account feuert der Bassmusik-Produzent Zomby eine volle Breitseite. An seinen Körper kommt nur Givenchy. Und seinen Hund liebt er so sehr, dass er ihm ein iPad gekauft hat. Und überhaupt: „Fuck them“. Am Montag war ist es so weit: Der Stream von „With Love“ ist online. Zomby twittert „It’s time to get fucking mental.“ Am gleichen Tag bricht Twitter zusammen. Die neuen Alben von Boards of Canada und Zomby in Kombination mit den Protesten in der Türkei sind zu viel für die Server.

Es ist paradox. Das Internet, gescholten für seine Transparenz, kultiviert die Aura des Stars durch Geheimniskrämerei. Boards of Canada versenden von ihrem schottischen Studio aus Informationskrümel, und ihre Fangemeinde spekuliert über Deutungen und Querverweise. Twittern sie eine Uhrzeit samt Koordinaten, fahren ihre Fans in die Wüste, ohne zu wissen, was dort passieren wird. Interviews geben die beiden Brüder nur selten.

Vor Zomby gibt es dagegen kein Entkommen. Rund um die Uhr verbreitet er sich auf Twitter, mal als hyperaktiver Euphoriker, öfter jedoch als Hater. In Interviews erzählt er mal von seinem Treuhänderfonds, mal stammt er angeblich aus einem klassischen Arbeiterhaushalt. Auftritte und Pressefotos gibt es nur mit einer Maske vor dem Gesicht. Zomby ist überall und nirgends, ein Auratiker qua Überinformation.

Aber so unterschiedlich Zomby und das schottische Geschwisterpaar Boards of Canada auf den ersten Blicken wirken – hier der erratische Breakbeat-Produzent, dort die in sich ruhenden Hippies aus dem schottischen Hochland – beide haben etwas gemeinsam. Ihre Musik kreist um ein abwesendes Zentrum aus Erinnerungen an Dinge, die sie nicht miterlebt haben. Boards of Canada und Zomby sind Nostalgiemaschinen.

Der süßliche Verfall

„Die kurze Spanne des Übergangs von analoger zu digitaler Musik ist der einzige Zeitraum, in dem wir überhaupt existieren können“, haben Boards of Canada ihren Platz in der Popgeschichte in einem ihrer seltenen Interviews mal beschrieben. Wo eine digitale Kopie verlustfrei so lange kopiert werden kann, bis sie von einem Moment auf den nächsten unlesbar ist, stellen analoge Medien ihren Verfall offen aus. Papier vergilbt, Magnetbänder leiern aus und mit jeder Kopie verstärkt sich das Rauschen. Dieses süßliche Verfallen stellen Boards of Canada mit ihrer Musik nach.

Welche Motive letztlich auf den vergilbten Fotos abgebildet sind und wessen Musik von den leierigen Kassettenbändern kommt, ist dabei zweitrangig. Wichtig ist das Ausstellen von Sehnsüchten, ein unbestimmtes Gefühl, dass etwas verloren gegangen ist. „Tomorrow’s Harvest“ wirft seine Hörer zurück in eine Zeit, als „Soylent Green“ noch Menschenfleisch war. Die Zeit, in der die Welt noch in schöner Regelmäßigkeit unterging, als Apokalypsen über den Untergang der Menschheit durch Hungersnöte oder einen Atomschlag zum Standardrepertoire von Filmen gehörten.

Das Albumcover zeigt die Innenstadt von San Francisco im orangefarbenen Licht einer Atomexplosion. Der Albumtitel greift einen Dokumentarfilm aus den späten Siebzigern über die katastrophalen Folgen des Klimawandels auf. Und auf der Website „Tomorrow’s Harvest“ kann man sich Überlebensrationen für die Zeit nach einer Umweltkatastrophe bestellen – eine Ration für drei Monate kostet 1.300 US-Dollar.

Verstimmte Analogsynthesizer

Dabei verbirgt die Musik des Albums das apokalyptische Grundthema hinter den Zutaten, die typisch für Boards of Canada sind. Schichten von warmen, leicht verstimmten Analogsynthesizern verschlängeln und verhaken sich, bis sie eine kaum zur überblickendes Mosaik aus Melodiekacheln bilden. Darunter liegt ein spärlich angezerrter Boom-Bap-Beat aus einem hoffnungslos veralteten Drumcomputer. Ein Boards-of-Canada-Album ist eben ein Boards-of-Canada-Album. Punkt.

Nur dass an die Stelle der Sehnsuchtsorte aus Kindheit, schottischer Landschaft und hypnotisierten Abenden vor dem Fernseher nun der Weltuntergang getreten ist. Immer wieder dringen Stimmfetzen durch die wohligen Texturen: abgehackt, verzerrt, unverständlich. Abgebrochene Gespräche, die sich im Äther verfangen haben, Gespenster eines Weltuntergangs, der nie eingetreten ist, obwohl er doch so sicher schien.

Aber was ist es eigentlich verloren gegangen, nachdem die Welt nicht mehr unterging? Die Heimeligkeit einer letztlich ja doch recht stabilen Zeit, die eigentlich erst dann aus den Fugen geriet, als eine der beiden tragenden Säulen wegbrach? „Tomorrow’s Harvest“ beantwortet diese Frage nicht, liefert unscharfe Bilder vom Weltuntergang anstatt CGI-Effekte und Modellberechnungen, die ja letztlich nicht weniger zum kontemplativen Gruseln einladen. Und lässt so die Geschichte offen.

Storys vom älteren Bruder

Für Zomby ist Kontemplation dagegen ein Fremdwort. Sein Weltuntergang war eh schon immer simuliert. „Where were you in ’92?“, fragte er 2008 auf seinem Debütalbum und lieferte die Antwort gleich mit. 1992 fand der Weltuntergang in einer ehemaligen Fabrikhalle unter Strobolicht statt, angefeuert von hochgepitchten Breakbeats, Sirenen und Samples aus Science-Fiction-Filmen. Eben genauso, wie man sich einen Rave vorstellt, wenn man ihn nur durch die Erzählungen und Platten des älteren Bruders mitbekommen hat.

Nicht dabei gewesen zu sein ist dabei Zombys großes Glück. Denn kein Rave ist so intensiv wie die Vorstellung, die man sich davon macht, wenn man mit großen Ohren die Piratensender Londons hört. Seitdem ist Zomby auf der Suche nach der verlorenen Intensität. Auf seinem Stück „Digital Smoke“ laufen die Leuchtstab-grellen Synthesizer in kleinen Arpeggios aufeinander, bevor ein bis zum Anschlag verzerrter Bass wie in einem Lowrider durch die Boxen wippt. Nach zweieinhalb Minuten blendet das Stück auf einmal aus. Kein Refrain, kein Drop, keine Erlösung. Rave, Jungle, Dubstep – das ganze „Hardcore Continuum“ – sind auf „With Love“ zu einer Landschaft aus untoten Formen geworben. Synthesizerloops wiederholen sich in feinster Rammdösigkeit, bevor sie einfach verschwinden, die Rhythmusspuren laufen ins Leere. Und hinter alldem steckt ein nervöses Erschöpftsein.

Zuckende Überreste und Untote

Zomby stolpert durch all die Zitate wie der letzte Überlebende, spielt mit ihren zuckenden Überresten, weidet sie aus und stößt sie schließlich zu den anderen Untoten zurück. Nur, dass er statt Survival-Outift Chanel und Givenchy dabei trägt und damit unverschämt gut aussieht.

Aber dennoch ist etwas neu auf „With Love“. Zomby hat Trap für sich entdeckt. Nicht die Cartoon-Variante mit Pistolenschüssen und dem zum Erbrechen allgegenwärtigen „Coke, Dope, Crack, Smack, Weed“-Sample, die im letzten Jahr der Fave aller Soundcloud-Accounts war. Sondern das schleifende, Schlieren ziehende Original aus den Südstaaten, mit seinen verdrogten Beats aus dem Drumcomputer 808 sowie Streichern und Pianosamples, die sich zu einem großen Showdown auftürmen. Zomby entdeckt diese, wie man halt etwas entdeckt, das man liebt, zu dem man aber nicht dazugehören kann: mit Hingabe. Immer wieder lässt er seine Loops in einem Zustand verdrogter Paranoia kollidieren und gibt den Richter darüber, was „Real Trap Shit“ ist und was nicht.

Das ist keine Selbstgerechtigkeit, sondern etwas anderes. Zomby spielt ein Ritual aus Distinktion, Authentizität und Differenz durch, das keinen Widerhall mehr findet. Wie der Weltuntergang von Boards of Canada wirkt es genau deshalb intensiv und bis ins Cartoonhafte übersteigert, weil er die Konsequenzen nicht zu befürchten hat. Und ist nostalgisch nach einer Zeit, als all dies noch Bedeutung hatte.

Boards of Canada „Tomorrow’s Harvest“ (Warp/Rough Trade);

Zomby „With Love“ (4AD/Beggars Group), erscheint am 14.6.

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