Mirko Schädel, Sammler historischer Krimis: "Damals war es richtig. Aber heute?"
Als die Wände seines Wohnzimmers vom Gewicht der Bücher Risse bekamen, errichtete Mirko Schädel seinen historischen Krimis in der Wesermarsch ein Museum. Über Kleinstadt-Mühsal, Herbsttage und die ewige Suche nach dem richtigen Ort.
STOLLHAMM taz | Ganz am Ende des Dorfes, schon hinter dem Ortsausgangsschild von Stollhamm, steht ein kleiner Wegweiser: "Krimimuseum", steht da, rechts ab. Ein verwachsener Weg führt zu einem Hof, dahinter bricht die Herbstsonne durch alte Bäume. Eine Tür steht offen, Klingel gibts keine, drinnen eine lange Diele, von der eine Glastür abgeht. Klopft man, ertönt drinnen lautes Gerappel und Gebell. Schwungvoll wird die Tür aufgerissen, ein Hund springt an der Besucherin hoch, Hände werden geschüttelt. "Erst mal einen Tee?", und ab geht es in die Wohnküche.
Mirko Schädel ist groß. Auch unter dem weiten Wollpullover ist ihm sein wöchentliches Sportprogramm - Schwimmen, Krafttraining und Yoga - anzusehen. Es gibt schwarzen Tee mit Kluntjes, ohne Löffel zum Umrühren. Dieser ostfriesischen Tradition ist der 44-Jährige mit dem kurz rasierten Kopf treu geblieben. Zurück in seine Heimatstadt Jever aber wollte er nicht, als ihm vor zehn Jahren das Leben in Hamburg zu viel wurde.
"Ich war ein schlimmer Workaholic", erzählt Schädel. Tagsüber in Vollzeit freier Grafiker und Layouter für verschiedene Zeitschriftenverlage, abends dann der eigene Buchladen "Blauer Affe" auf St. Pauli. Nebenbei kümmerte er sich um den 1990 zusammen mit einem Freund gegründeten Verlag Achilla Presse. Und wenn Freunde ihn baten, dieses und jenes für sie zu erledigen, sagt Schädel, habe er auch nicht Nein gesagt.
Die Buchhandlung mit ihrer großen Auswahl an Büchern kleiner und freier Verlage rechnete sich nicht und nach einem Jahr schloss Schädel den Laden wieder. "Ich hätte aber ohnehin aufgehört, auch wenn das ganze kein Verlustgeschäft gewesen wäre", sagt er. "Ich musste einfach weg, brauchte Abstand. Auch zur Verwandtschaft." Also wurde es Stollhamm. Der Jadebusen, der zwischen dem kleinen Ort auf der Halbinsel Butjadingen und Jever liegt, wo die Verwandtschaft wohnt, reicht ihm als trennendes Wasser.
"Sollen wir rüber ins Museum gehen?", fragt er nach dem zweiten Tee, einer selbst gedrehten Zigarette und einer Anekdote über seine Zeit als Statist an verschiedenen Hamburger Bühnen. Wenn er sich als Statist auf der Bühne nackt ausziehen oder einen der beleibten Opernsänger herumtragen musste, gab es extra Geld. "Das waren die besten Einsätze", sagt Schädel, "da kamen dann an einem Abend schon mal 100 Mark bar auf die Hand raus."
Zum Museum, das er 2007 eröffnete, geht es einmal rum um den Hof, in die ehemalige Stallung. Als Schädel den Hof von einem Bauern übernahm, war das rote Backsteingebäude fast vollständig zerstört: Eine Kastanie lag mittendrin, für 50 Euro hätte der frühere Eigentümer ihm den alten Stall abgerissen. Schädel ließ ihn stehen, ohne schon zu ahnen, dass er hier ein paar Jahre später Deutschlands erstes Krimimuseum eröffnen würde.
Seine ersten Krimis fand Mirko Schädel als Zwölfjähriger auf dem Dachboden seiner Oma: Es waren die Geschichten von Martin Gunnar Serner. Der Schwede, ein europaweit gesuchter Hochstapler und Betrüger, schrieb in den 1920er Jahren unter dem Pseudonym Frank Heller Kriminalromane. Heute hat Schädel fast 5.000 Krimis zusammengetragen, die vor 1945 im deutschsprachigen Raum erschienen sind. Fast doppelt so viele finden sich in seiner "Illustrierten Bibliographie der Kriminalliteratur im deutschen Sprachraum von 1796 bis 1945". Auch die Heller-Reihe, mit der alles anfing, gehört dazu.
Einen literaturhistorischen Schatz hat er über die Jahrzehnte angesammelt, den er in Dreierreihen gestapelt in seinem Wohnzimmer lagerte. Irgendwann konnten die Bücher dort nicht mehr bleiben, weil das Gewicht der Tausenden Bücher Risse in die Wände des alten Hauses trieb. Da begann er mit der Renovierung des Stalls. Er sei eher der Mann fürs Grobe, Dachziegel schleppen, Fußboden gießen oder Wände mit Rigips verkleiden liege ihm. Es dauerte dann aber doch ein weiteres Jahr, bis der Stall fertig war für die Sammlung.
"Vielleicht war es ein Fehler, hierher zu ziehen", sagt Schädel, als er die Holztür zum Museum aufschließt. "Damals war es richtig zu gehen, aber heute?" Das Problem: Kleinstädter, die nie aus ihrem Ort rausgekommen seien, wüssten nicht, was die Welt noch zu bieten habe. Das sei auch hier in Stollhamm nicht anders, oder dem nahen Varel. "Meine etwas unkonventionelle Lebensweise", sagt Schädel, "passt hier nicht allen." Und unkonventionell ist es in Stollhamm schon, alleine auf einem Hof zu wohnen, ohne geregelten Nine-to-five-Job. "Vielleicht ist es ganz gut, dass ich ganz am Dorfrand lebe, sonst hätte ich wahrscheinlich schon haufenweise Klagen am Hals, weil mein Rasen nicht kurz genug ist, die Bäume nicht ordentlich beschnitten sind und so."
Schädels Museum ist ein lang gestreckter rechteckiger Raum mit nacktem Betonfußboden und freiliegenden Deckenbalken. In Regalen, die Wände entlang, stehen Bücher, sortiert nach Verlag, Reihen oder Autoren. In Vitrinen untergebracht sind die bis zu 200 Jahre alten Schätze untergebracht. Lesesessel samt Tischchen und Ofen gibt es auch. "Ich dachte, wenn ich schon einen eigenen Raum für die Bücher habe, dann gestalte ich es gleich wie in einer Ausstellung", sagt Schädel und geht voran in die hinterste Ecke.
Hier beginnt er mit seinen Führungen, wenn Besucher da sind. Hier liegt mit William Godwins "Caleb Williams oder Die Dinge wie sie sind" auch einer der ersten Kriminalromane überhaupt unter dem Vitrinenglas. Schädels Ausgabe ist aus von 1931. Dieses Jahr hat er "Caleb Williams" neu übersetzen lassen, für den eigenen Verlag.
Zusammengetragen hat er seine Exponate die vergangenen 20 Jahre hindurch, in Antiquariaten, Archiven, bei anderen Sammlern oder im Netz. "Aber heute finde ich nicht mehr viel", sagt er, "vielleicht zehn bis 20 im Jahr." Das meiste, was zwischen 1796 und 1945 auf deutsch oder ins Deutsche übersetzt erschienen ist, hat er bereits hier. Manchmal gehe er abends in sein Museum, nehme ein Buch mit und lese die halbe Nacht. Insofern greift das Wort Museum nicht so recht, Lesesaal oder auch Bücherei wäre treffender.
Am Ende der Touristensaison verirren sich nur noch wenige Besucher hierher. "Das geht erst im Frühling wieder los." Jetzt kommen erst mal die dunklen Monate. "Der November ist am schlimmsten", sagt Schädel auf dem Weg zurück in die Küche. Und selbst an diesem strahlend schönen Oktobertag ist zu ahnen, wie grau, nass, dunkel und unwirtlich es hier bald sein wird.
Direkt an seinen Hof grenzen nur Wiesen und Weiden, kein Haus mehr in Sicht, nur ein paar vereinzelte Bäume. "Im letzten Winter habe ich einmal einen ganzen Tag mit Schneeschippen verbracht", sagt Schädel. "Auch auf der Straße war irgendwann Schluss, da kam man einfach nicht mehr durch." An solchen Tagen steckt er dann fest in Stollhamm.
Ein Blick auf die Uhr, es ist fast zwölf. Schädel verschwindet im Nebenraum und kommt zwei Minuten später zurück, im weißen Hemd zum schwarzen Anzug. Er will nach Hamburg, ins Thalia-Theater. Mit dem Auto dauert es nur zweieinhalb Stunden.
Krimimuseum: Hauptstraße 80, Butjadingen-Stollhamm, Internet:
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