Ministerpräsidentenwahl in Armenien: Parlament lehnt Protestführer ab
Nikol Paschinjan war der einzige Kandidat, nachdem der ehemalige Ministerpräsident zurückgetreten war. Nun ruft der Abgelehnte zum Streik auf.
Er war der einzige Kandidat für diesen Posten. Die regierende Republikanische Partei hatte darauf verzichtet, einen eigenen Kandidaten zur Wahl aufzustellen. Sie kündigte allerdings nach mehr als acht Stunden Anhörung und Debatte im Parlament an, den Oppositionspolitiker nicht unterstützen zu wollen. Beim anschließenden Wahlgang erhielt Paschinjan 45 Stimmen und 55 Gegenstimmen. Individuelle Stimmenabgabe hatte die republikanische Partei ausgeschossen.
Paschinjan traf die Verweigerung nicht unvorbereitet. Unmittelbar vor der Parlamentssitzung hatte Paschinjan darauf verwiesen, dass die Ex-Präsidenten, Sersch Sargsjan und Robert Kotscharjan, beabsichtigten, „die Macht wieder zu übernehmen“. Daraufhin rief er seine Anhänger auf, wieder auf die Straße zu gehen, um sich „den Sieg nicht stehlen“ zu lassen. Weil er vom Parlament abgelehnt wurde, rief Paschinjan zu einem landesweiten Streik auf. Zwischen 30.000 und 40.000 Oppositionsanhänger hatten am Dienstag vor dem Parlamentsgebäude ihre Unterstützung für Paschinjan zum Ausdruck gebracht.
Drei turbulente Protestwochen waren der Abstimmung vorausgegangen, in denen es der Opposition unerwartet gelang, den ehemaligen Präsidenten und gerade erst neu ins Amt des Ministerpräsidenten gewählten Sersch Sargsjan, zum Rücktritt zu zwingen. Die Lage nach der gescheiterten Wahl ist unübersichtlich. In einer Woche könnte ein zweiter Wahlgang stattfinden. Sollte der auch fehlschlagen, müssten Neuwahlen ausgeschrieben werden.
Der „Kandidat des Volkes“
Verfassungsrechtliche Mauscheleien hatten es Sargsjan ermöglicht, vom Präsidentenamt auf den Posten des Ministerpräsidenten zu wechseln, das er vorher mit weitreichenden Kompetenzen des Präsidenten hatte ausstatten lassen. Bei den Wählern stieß die Herrschaftsverlängerung nicht auf Unterstützung und gipfelte in anhaltenden Massenprotesten. Sersch Sargsjan ist auch Vorsitzender der Republikanischen Partei, die mit 58 von 103 Abgeordneten über eine absolute Mehrheit im Parlament verfügt.
Paschinjan hatte sich selbst als „Kandidat des Volkes“ eingeführt und forderte das Amt des Ministerpräsidenten seit den Protesten für sich ein. In einer Übergangsperiode sollten zunächst neue Wahlgesetze erarbeitet und dann Neuwahlen abgehalten werden.
In der Sondersitzung des Parlaments drohte Paschinjan: Sollte er nicht gewählt werden, stünde dem Land ein „politischer Tsunami“ bevor. Er warnte die Regierungspartei, die „Nachsicht des Volkes nicht mit Schwäche zu verwechseln“. Anstatt die richtigen Schlüsse aus den Massenprotesten der vergangenen Wochen zu ziehen, spiele die Republikanische Partei immer noch Katz und Maus, sagte er.
Die Proteste, die in der 2,5-Millionen-Einwohner-Republik mehrmals über hunderttausend Menschen auf die Straße brachten, verliefen bislang friedlich. Das rechtfertigt auch die Bezeichnung als „samtene Revolution“.
Der armenische Beobachter Michael Zolyan nannte die Ereignisse einen „Karneval der Revolutionen“. Früh hätten die Demonstranten das Geschehen bereits als „Revolution“ wahrgenommen. Es sei absehbar gewesen, dass es bei den Demonstrationen nicht mehr nur um einen Politik-, sondern einen Systemwechsel geht.
Paschinjan verfügt im Parlament über neun Stimmen. Eine Reihe kleinerer Parteien hatte ihm im Vorfeld darüber hinaus Unterstützung zugesagt. Gleichwohl fehlen dem Oppositionellen nach wie vor sechs Stimmen für eine einfache Mehrheit der insgesamt 103 Abgeordneten.
Gegen Armut und Korruption
In der Republik lebt ein Drittel der Bevölkerung am Rande des Existenzminimums. Paschinjan versprach, Armut zu bekämpfen und gegen Korruption vorzugehen.
Das Land ist seit dem Zusammenbruch der Sowjetunion unter Politikern und Oligarchen in Lehnwesen aufgeteilt worden. Das stellt der Oppositionelle nun infrage, gleichzeitig sicherte er aber auch zu, dass er weder Rache nehmen noch Eigentumsverhältnisse antasten wolle. Beobachter sehen darin einen taktischen Zug, um den Widerstand des Gegners nicht herauszufordern.
Einige Vertreter der Nomenklatura sollen sich bereits ins Ausland abgesetzt haben, berichteten armenische Quellen.
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