Migrationsexperte über Einwanderung: „Nur wenige werden kommen“

Das Fachkräfteeinwanderungsgesetz tritt in Kraft, aber es bleiben hohe Hürden. Migrationsexperte Brücker plädiert für mehr Integrationschancen.

Jobbörse für geflüchtete Menschen im Hotel Estrel in Neukölln.

Die Hoffnung für den Arbeitsmarkt: Zugewanderte. Hier auf einer Jobbörse in Berlin Foto: Jens Jeske/www.jens-jeske.de

taz: Herr Brücker, im März tritt das Fachkräfteeinwanderungsgesetz in Kraft. Ist dann der Fachkräftemangel gelöst?

Herbert Brücker: Nein, natürlich nicht. Die zu erwartenden Effekte sind relativ gering. Es ist kein grundlegender Wandel in der Gesetzgebung vollzogen worden, man hat nur das Bestehende etwas weiterentwickelt. Menschen mit beruflichem Abschluss werden Hochschulabsolventen gleichgestellt und die Vorrangprüfung wird weitgehend abgeschafft. Aber die wichtigste Hürde bleibt bestehen: Menschen können nur einwandern, wenn ihre Berufsausbildung gegenüber deutschen Abschlüssen als gleichwertig anerkannt wird.

Warum ist das problematisch?

Das duale Ausbildungssystem in Deutschland ist weltweit ziemlich einmalig. Wir müssen uns von der Vorstellung verabschieden, dass die Menschen, die zu uns kommen, exakt die gleichen Qualifikationen haben wie deutsche Beschäftigte.

Warum beharrt Deutschland überhaupt so darauf?

Dahinter steckt die Vorstellung, dass Migrantinnen und Migranten genauso sein müssten wie deutsche Arbeitnehmer. Die Politik hat Angst, dass Menschen doch arbeitslos werden, dem Sozialstaat zur Last fallen. Das ist verständlich. Aber: Die Menschen, die über das Fachkräfteeinwanderungsgesetz zu uns kommen, werden sich zwar hervorragend in den Arbeitsmarkt integrieren. Doch es werden wenige sein.

Die Bundesregierung hat kürzlich betont, dass auch in Deutschland noch nachqualifiziert werden kann.

Fachkräfteeinwanderungsgesetz: Ab März 2020 dürfen Menschen mit einer qualifizierten Berufsausbildung nach Deutschland einwandern, wenn sie einen Arbeitsvertrag vorweisen können. Wer sich selbst finanzieren kann und qualifiziert ist, darf für sechs Monate zur Arbeitsplatzsuche einreisen. Bislang gab es diese Einreise nur bei Akademiker*innen oder Fachkräften, deren Beruf auf einer Liste von Mangelberufen stand.

Diesen Weg gab es schon im alten Recht. Das ist jetzt noch etwas erschwert worden, weil zusätzlich Deutschkenntnisse gefordert werden. Das Hauptproblem aber ist, dass es gleichermaßen für die Arbeit­geber als auch die Arbeitnehmer sehr riskant ist, diesen Weg zu wählen. Wenn die Anerkennung nicht gelingt, müssen sie wieder ausreisen. Das Risiko wollen viele nicht eingehen. Deshalb hat in der Vergangenheit nur eine verschwindend geringe Zahl von Personen diesen Weg gewählt, ich wäre überrascht, wenn sich das jetzt ändert.

Wie viele Menschen bräuchte die Wirtschaft denn?

Ganz ohne Zuwanderung würde das Erwerbspersonenpotenzial in Deutschland bis 2060 um 40 Prozent sinken. Im historischen Durchschnitt liegt die Nettoeinwanderung bei 200.000 Menschen pro Jahr. Wir bräuchten aber 400.000, um das Erwerbspersonenpotenzial gerade mal konstant zu halten. Auch dann wird das Verhältnis von Erwerbstätigen zu Rentnern noch deutlich zunehmen.

Sind in dieser Zahl auch die Geflüchteten inbegriffen?

Ja. Aber Geflüchtete haben viel geringere Erwerbstätigenquoten als Menschen, die über ein Arbeitsvisum einreisen. Es wird immer humanitäre Migration geben, das ist auch richtig so. Aber die Proportionen stimmen in Deutschland nicht. Im Moment machen Arbeitsmigranten etwa ein Zehntel der Zuzüge aus Drittstaaten und fünf Prozent der gesamten Migration aus. Es wäre gut, wenn wir einen Anteil von etwa 30 bis 40 Prozent erreichen, so wie andere Einwanderungsländer.

Aber die Arbeitsmarktintegration von Geflüchteten läuft doch besser, als man gedacht hat, oder?

59 Jahre alt, ist Direktor des Instituts für empirische Integrations- und Migrations­forschung (BIM) der Berliner Humboldt-Universität und Leiter des Forschungsbereichs „Migration, Integration und internationale Arbeitsmarktforschung“ am Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) in Nürnberg.

Die Erwerbstätigenquote liegt bei der ausländischen Bevölkerung insgesamt bei etwa 55 Prozent. Bei der deutschen Bevölkerung sind es 70 Prozent. Von den Geflüchteten, die seit 2015 gekommen sind, sind inzwischen 40 Prozent erwerbstätig. Sie integrieren sich langsamer in den Arbeitsmarkt. Es dauert etwa 10 bis 15 Jahre, bis sie vergleichbare Erwerbstätigenquoten erreichen wie andere Migrantengruppen.

Warum?

Das liegt nicht allein an den Bildungsvoraussetzungen. Diese Menschen fliehen vor Krieg und Verfolgung, sie sind also viel schlechter auf die Migration vorbereitet und müssen die Flucht auch verarbeiten. Die Asylverfahren dauern lange, und sie haben in der Regel nur temporäre Aufenthaltstitel. Hinzu kommt ein geringer Anteil, der über berufliche Bildungsabschlüsse verfügt. All das hat langfristig negative Folgen für die Arbeitsmigration.

Wie zeigt sich das in konkreten Fällen?

Die Beschäftigungschancen eines Schutzsuchenden mit Hochschulabschluss sind schlechter als bei jemandem, der ohne berufliche Ausbildung über ein Visum zu Erwerbs­zwecken kommt. Das sagt eigentlich alles.

Unternehmen suchen auch dringend Bau- oder Pflegehelfer. Sollte man auch diese Wege weiter öffnen?

Seit 2012 ist das Beschäftigungswachstum bei Menschen, die Helfertätigkeiten ausüben, etwa doppelt so stark gestiegen wie im Durchschnitt der Beschäftigten. Es besteht also durchaus eine hohe Arbeitsnachfrage in diesem Feld. Wir wissen aber auch, dass Menschen ohne abgeschlossene ­Berufsausbildung dauerhaft höhere Beschäftigungsrisiken aufweisen. Schon deshalb sollten wir bestimmte Bildungsanforderungen stellen.

Bei der Westbalkanregelung müssen Menschen aber keine Berufsausbildung vorweisen.

Die Beschäftigungsquoten bei Menschen aus den Westbal­kanländern sind durch diese Regelung extrem stark gestiegen. Es spricht vieles dafür, dass sie sich hervorragend in den Arbeitsmarkt integriert haben. Sie üben übrigens nicht alle Helfertätigkeiten aus, viele arbeiten auch als Fachkräfte. Die Regelung schließt allerdings aus, dass Menschen hier Leistungen beziehen, die Risiken für den Arbeitsmarkt und den Sozialstaat sind also relativ gering. Für eine endgültige Bewertung müssen wir erst einmal die Evaluationsergebnisse abwarten.

Könnte eine ähnliche Regelung für andere Länder dazu beitragen, das Asylsystem zu entlasten?

Ich bin da vorsichtig. Die meisten Menschen, die als Asylbewerber nach Deutschland gekommen sind, haben legitime Schutzansprüche. Zum Jahresende 2018 hatten 72 Prozent der Schutzsuchenden in Deutschland einen anerkannten Schutzstatus, 11 Prozent waren endgültig abgelehnt und bei 17 Prozent war noch nicht endgültig über die Asylanträge entschieden worden.

Die große Mehrheit der Menschen flieht vor Krieg oder Verfolgung aus Syrien, dem Irak oder Afghanistan, oder sie kommen aus den Ländern am Horn von Afrika, wo es Diktaturen und zum Teil auch Bürgerkriege gibt. Die weit verbreitete Auffassung, wonach die große Mehrheit der Menschen aus wirtschaftlichen Gründen gekommen wäre und hier keinen Schutzanspruch hat, ist falsch.

Die SPD wollte einen Spurwechsel, um gut in den Arbeitsmarkt integrierten Geduldeten einen Aufenthaltstitel zu geben. Warum ist das nicht passiert?

Es gibt da zwei widerstreitende Interessen. Die Integra­tionspolitiker sagen: Sowohl die deutsche Bevölkerung als auch die Anspruchsberechtigten profitieren davon. Die Innenpolitiker sagen: Wir schaffen damit Pull-Effekte. Ein einfacher Ausweg wäre eine Stichtagsregelung: Wer vor einem bestimmten Datum eingereist ist und bestimmte Kriterien erfüllt, bekommt eine zunächst befristete Aufenthaltserlaubnis. Das machen viele Länder und hat auch Deutschland in der Vergangenheit schon gemacht. Man kann das dann alle fünf, zehn Jahre in unregelmäßigen Abständen wiederholen. Solange das nicht kalkulierbar ist, sind die Pull-­Effekte gering.

Was steht stattdessen im Gesetz?

Ein Kompromiss: die Ausbildungs- oder Beschäftigungsduldung. Eine Duldung ist aber kein Aufenthaltstitel, die Menschen werden hier nur toleriert. Und man hat Fristen eingeführt, während derer der Staat versuchen kann die Personen abzuschieben, auch wenn sie Ausbildungs- und Beschäftigungsverträge haben. So wird die Arbeitsmarktintegration verzögert und dadurch letztlich immer unwahrscheinlicher.

Die Union wollte sich auf einen Spurwechsel aber nicht einlassen.

Die Frage ist, wem das nützt. Die größte Gruppe unter den Geduldeten sind die Afghanen. Wegen der Sicherheitslage in Afghanistan schiebt Deutschland dorthin fast nicht ab. Diese Menschen werden viele Jahre hier in Deutschland bleiben. Wenn wir ihre Beschäftigungschancen verschlechtern, werden wir sie über den Sozialstaat finanzieren müssen. Wenn wir aber umgekehrt Integrationschancen einräumen, gewinnen alle Seiten. Es ist schade, dass man diese Möglichkeit vergibt.

Wie wird es jetzt weiter­gehen mit Deutschland als Einwanderungsland?

Man wird sehen, wie viele Leute über das Fachkräfteeinwanderungsgesetz kommen und wie sie sich in den Arbeitsmarkt integrieren. Bei Letzterem braucht man kein Genie zu sein, um zu prognostizieren: Sie werden das hervorragend tun. Was aber die Zahlen angeht, wird das Gesetz voraussichtlich kein großer Erfolg. Also wird man neu nachdenken und dieses Gesetz novellieren – auch das wäre nicht das erste Mal. Vielleicht reden wir dann über ein Einwanderungsgesetz, das diesen Namen auch verdient.

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