Migration während der Pandemie: An der Grenze zum Ziel
Gaspar Cobo hat es von Guatemala durch Mexiko geschafft. Jetzt bleibt ihm nur zu warten. Denn die USA haben ihre Grenze geschlossen.
I m Herbst sind die Sonnenuntergänge in der Wüste eine wahre Farbenpracht. Auf der Grenzbrücke Santa Fe, die die mexikanische Metropole Juárez mit seiner Schwesterstadt El Paso, Texas, verbindet, kann man die Orange- und Violetttöne über dem Lichtermeer des binationalen Ballungsraums bewundern. 2,5 Millionen Menschen leben hier, eng miteinander verbunden im Alltag diesseits und jenseits der Grenze, die fast durchlässig erscheint.
Doch seit dem Lockdown am 20. März haben die USA den Grenzverkehr für Personen heruntergefahren. Die Massen der Grenzgänger, die zum Studium, für Familienbesuche, zur Arbeit, zum Ausgehen, für ein Date oder ein Angebot im Walmart die hohe rote Brücke mit den Fahnen der beiden Länder kreuzen, bleiben aus. Die notorischen Autoschlangen und das Heer derjenigen, die zu Fuß mit Handwagen oder Einkaufstasche die Grenze kreuzen, sind eine rare Erscheinung geworden.
Gaspar Cobo erwartet nichts sehnlicher, als diese Grenzbrücke zu überqueren. All seine Hoffnung liegt auf den akribischen Fragen, die ihm dort ein Asylrichter stellt, und deren Antworten eines Tages dazu beitragen mögen, seinen Asylantrag für die Vereinigten Staaten positiv zu entscheiden.
Gaspar Cobo ist Anfang 30, wirkt aber zart wie ein Knabe. Er versinkt fast im Sofa. In Gedanken scheint er auf seinem Feld in Guatemala zu stehen, auf dem er Mais für seine Familie angebaut hat. Oder im Hof, wo er Hühner hielt, durch Maschendraht von den majestätischen Dobermännern getrennt, die als Wachhunde dienten. So lange, bis die Morddrohungen einsetzten und er seine Gemeinde und sein Land verlassen hat.
Das Asylrecht ist für unbestimmte Zeit suspendiert
Wie Cobo warten rund 6.500 Menschen seit ein bis zwei Jahren in der mexikanischen Grenzstadt Juárez auf die erste oder irgendeine weitere Asylanhörung durch die US-Behörden. Die Regierung von Präsident Donald Trump hatte das Asylrecht im Januar 2019 zunächst ins Nachbarland Mexiko ausgelagert und dann in der aktuellen Coronakrise komplett und auf unbestimmte Zeit ausgesetzt. Ein Novum seit dessen Verankerung in der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte der Vereinten Nationen im Jahre 1948.
Frustriert fühle er sich, sagt Gaspar Cobo. Einsam, so weit weg von der Familie und nun auch noch isoliert durch die Pandemie. Verzweifelt, denn „in Guatemala gehen die sozialen Kämpfen weiter“. Cobo gehört der indigenen Minderheit der Maya Ixil an, die eigentlich schon Anfang der 1980er Jahre für immer verschwinden sollte. So wuchs er in einem versteckten Camp in den Bergen auf. Doch die Verfolgung ging auch nach 36 Jahren Bürgerkrieg weiter.
Für Gaspar Cobo, so berichtet er, bedeutete dies täglich Prügel. Wer in der Schule auch nur in der Muttersprache flüsterte, erfuhr drakonische Strafen. „Unzählige Kinder hielten die Tortur nicht durch und brachen ab.“ Cobo leistete inneren Widerstand. Er lernte fließend Spanisch, machte seinen Abschluss und studierte Buchhaltung. „Aber ich vergaß nie, was mir meine Eltern und Großeltern mit auf den Weg gaben: die Natur als Heiligtum zu schützen.“
Im Hochland von Guatemala rund um die Kleinstadt Nebaj liegen Täler in sattem Grün, eingerahmt von Pinienwäldern und weißen Wolken am blauen Himmel. Das Land des ewigen Frühlings zeigt sich hier so malerisch wie in den Touristenbroschüren. Doch unter den Hängen der Region Quiché liegen Massengräber. Militärs eigneten sich das Land der Vertriebenen an, um es auszubeuten. So brechen riesige Wasserkraftwerke heute abrupt mit der landschaftlichen Schönheit. Der produzierte Strom bleibt gigantischen Tagebauprojekten vorbehalten, die Berge in giftige Mondlandschaften verwandeln.
Cobo ließ sich als Übersetzer und Teil der indigenen Autoritäten seiner Gemeinde nicht von den Bergbauunternehmen kaufen. Die Repression begann. Und irgendwann wurden aus den Drohungen Angriffe. Eine junge Mitstreiterin Cobos wurde ermordet. Er begriff, dass Vertraute ihn denunzierten.
Die Flucht nach Mexiko
„Anfang Juni 2019 verließ ich meine Gemeinde.“ Es war noch dunkel, nur vereinzelt schrien Hähne. An einer Wegkreuzung traf er seinen Freund Francisco Chavez, der als Kind ein Massaker überlebt und in den Genozid-Prozessen ausgesagt hatte, die die Staatsanwaltschaft mithilfe von Überlebenden gegen das alte Regimes führt. Beide wussten, dass sie tot sein würden, wenn sie blieben, und so begannen sie an diesem Morgen eine Reise, die zu den gefährlichsten der Welt zählt: ohne Papiere durch Mexiko mit dem Ziel USA.
„Man reist wie Vieh“, erinnert sich Cobo schaudernd, blind übereinandergestapelt unter doppelten Böden, von korrupten Polizisten beraubt und gedemütigt. Stolpere durch die Wildnis, um Militärposten zu umgehen, nur um schließlich von mit horrenden Summen bezahlten Schleusern entführt zu werden. „Und nicht alle schaffen es.“ Sie aber haben es nach Ciudad Juárez geschafft, einen Steinwurf von ihrem Ziel Vereinigte Staaten entfernt.
Über dem Asphalt brennt die Sonne. Im Sommer fällt das Atmen schwer, so heiß und trocken ist die Luft. Im Winter platzen die Rohre bei Minustemperaturen. So sind die Arbeitsmigranten aus dem Süden, die die Stadt zur Boomtown machen, froh, wenn ihre Schicht in einer mit Klimaanlage versehenen Montagefabrik beginnt. Die mehreren Tausend Geflüchteten, die in den letzten zwei Jahren in Ciudad Juárez eintrafen, bilden einfach nur eine weitere Exilgemeinde und werden als solche akzeptiert. Auch Migrationspolizei und Unternehmen einigten sich schnell, Arbeitserlaubnis und Arbeitsplatz zu stellen. Die Personaltransporte der Fabriken fahren direkt am Grenzstreifen entlang. Rostbraune Stahlstreben trennen wie eine überdimensionale Schlange die Grenzstädte.
Gaspar Cobo, Guatemalteke
Cobo und Chavez sitzen auf der falschen Seite fest, obwohl sich ein US-Anwalt ihres Falles annahm. „Jetzt sind wir schon so lange hier – über ein Jahr.“ In einer Großstadt, die nachts von Schießereien der Drogenkartelle heimgesucht wird, die um die Vorherrschaft am Einfallstor zu den USA kämpfen. Ihre Mordrate macht Ciudad Juárez nach Tijuana zur zweitgefährlichsten Stadt Mexikos und der ganzen Welt. Doch das von der Regierung Donald Trump eingeführte Programm „Remain in Mexico“ zwingt Asylanwärter für die USA in genau diesen Städten ihres Verfahrens im Nachbarland auszuharren.
„Doch dann kam Corona und es gab kein Asyl mehr.“ Wie jeden Tag, wenn Cobo von der Schicht in einer Zuliefererfirma kommt, steht er in Gedanken auf seinem Feld im Quiché, wie er sagt. Sein schmaler Lohn von umgerechnet rund 75 Euro die Woche sowie die Unterstützung einer Soli-Initiative in El Paso sichern ihm das Überleben. Doch Gaspar Cobo fühlt sich entwurzelt.
Hinter dem Parkplatz des Wohnblocks in Ciudad Juárez wächst eine Bananenpflanze. Cobo streicht über die prallen grünen Blätter. Sie wirkt überraschend fehl am Platz, hier, wo jeder Strauch ums Überleben kämpft. Trotzdem schafft sie es nicht, ihm die Maisstauden zu ersetzen, die sich viele tausend Kilometer südlich von hier sanft im Wind wiegen. Doch Cobo weiß, dass er nicht zurückkann.
Yumi, Kubanerin
Ein paar Straßenzüge weiter eilt Yumi nach Hause. Sie ist eine große schlanke Frau, die tätowierten Arme vor der Brust verschränkt und vor dem Baby, das sie in Ciudad Juárez zur Welt gebracht hat. Gefühlt hat sie seitdem nur zwei Stunden am Stück geschlafen. „Es ist mein erstes Kind und ich bin ganz allein hier“, sagt Yumi, die ihren Nachnamen nicht nennen möchte. Wie man eine Windel wechselt, hat sie bei Youtube gelernt. Ihre Mutter versucht ihr per Videochat von Kuba aus, unterstützend zur Seite zu stehen. „Sie schickt mir Geld – dabei sollte es doch umgekehrt sein!“
Yumi schüttelt den Kopf und schiebt die Eingangstür auf. Ein Gang führt zu den abgetakelten Wohneinheiten, Stimmengewirr erfüllt die Luft. In Ermangelung von Fenstern stehen die Türen offen. „Hey, Yumi“, ruft eine Nachbarin mit roter Haarfarbe auf dem Kopf, die um die Ecke linst. Alle hier kommen sie von der fernen Karibikinsel. Neben den mittelamerikanischen Ländern Guatemala, Honduras und El Salvador ist Kuba führendes Herkunftsland von Neuankömmlingen in Juárez. Alle warten sie nur auf eins, ihr Asylverfahren in den USA.
Sie sei hier eingezogen, um nicht so einsam zu sein, erklärt Yumi und lächelt fast entschuldigend. Als sie vor zwei Jahren mit ihrem Freund in das Flugzeug nach Guayana stieg, hätte sie sich nie träumen lassen, dass ihre Beziehung das US-Grenzregime nicht überstehen würde. Ihr Freund ist längst in den Staaten und schon lange nicht mehr ihr Freund. Sein Kind zieht sie nun allein auf, in einem fremden Land, dessen scharfes Essen ihr Schluckauf bereitet. Diese Stadt Juárez könne einem Angst machen mit so vielen Horrormeldungen über Frauenmorde und Kartellgewalt. Weder den Geflüchteten noch den Einheimischen kann da eine weltweite Pandemie den Schrecken in die Knochen treiben. Yumi ist froh über die gute Nachbarschaft. Die meisten Menschen hier seien bezaubernd hilfsbereit.
Noch lässt sich ihr kleiner Junge durch einen an der Wand hängenden Teddybären vom aufkommenden Hunger ablenken. Die junge Mutter nutzt die Zeit, um seine und ihre Unterlagen zusammenzusuchen. Morgen hat sie einen Termin im Einwohnermeldeamt von Ciudad Juárez, um ihr Baby registrieren zu lassen. „Mein kleiner Mexikaner“, lacht Yumi. Wie gerne würde sie mit ihm über die gleich dahinter liegende Santa-Fe-Brücke schreiten. So viele Länder hat sie durchquert, um hierherzugelangen. „An eine Rückkehr ist nicht zu denken.“ In Kuba schnüre einem der Staat die Luft ab, alle Arbeit sei so schlecht bezahlt, dass man sie lieber gar nicht machen wolle. Nur ihre Familie vermisst sie sehnsüchtig. Mit einem positiv beschiedenen Asylantrag hätte sie vielleicht die Chance, sie nachzuholen.
Im Hotel Flamingo
Während schon Tausende Geflüchtete seit Monaten in der Grenzstadt Ciudad Juárez ausharren, kommen täglich Menschen neu hinzu. Doch die kirchlichen Migrantenherbergen sind aufgrund der erhöhten Ansteckungsgefahr ihrer auf engem Raum zusammenwohnenden Schützlinge hermetisch abgeriegelt. Ein staatliches Auffanglager wurde über die letzten Monate zweimal von einem Corona-Ausbruch heimgesucht. „Nur ein Gutes hat die repressive US-Asylpolitik hervorgebracht: eine engagierte mexikanische Zivilgesellschaft.“ Rosa Mani Arias blickt triumphierend über ihren Mundschutz hinweg. Die Direktorin des Hotel Flamingo, einer Quarantänestation für Geflüchtete, weiß, wovon sie spricht. In Ciudad Juárez kam es nie zu einer großen humanitären Krise. Zu effizient arbeiten Nichtregierungsorganisationen und Initiativen zusammen, um Tausenden Neuankömmlingen Unterkunft und Unterstützung zu bieten.
„Das funktionierte auch bei Beginn der Pandemie und Aussetzen des Asylrechts in den USA“, sagt Arias. Asylanwärter verloren ihre Gerichtstermine, Neuankömmlinge bekamen erst gar keine – und immer mehr Menschen, die sich notdürftig im Transit eingerichtet hatten, verloren im Lockdown ihre Jobs und konnten ihre Miete nicht mehr bezahlen. „Wieder war es die Zivilgesellschaft, die reagierte und diese Quarantänestation einrichtete, damit Menschen nicht auf der Straße stehen“, berichtet Mani Arias. Das Projekt wird von UN-Organisationen unterstützt, die das Modell in die Stadt Tijuana an der Grenze zu Kalifornien übertragen haben. Wie lange es noch weitergeführt wird, ist fraglich. Gerade schießen Ansteckungs- und Todeszahlen in Ciudad Juárez wieder in die Höhe. „Und vielleicht braucht es erst einen Regierungswechsel in den USA, damit Asyl wieder eingeführt wird“, meint Arias.
Weißgetünchte Zimmer gehen im Hotel Flamingo von zwei Innenhöfen ab. Vor den Türen sind kleine Terrassen mit Absperrgittern markiert. Für zwei Wochen sind Kleinfamilien und Bezugspersonen auf die ihnen zugewiesenen Räume beschränkt. Das Essen wird gereicht und eine psychologische Betreuung gibt es per Zimmertelefon. Das Areal im zweiten Stock ist den Infizierten vorbehalten. Die diensthabende Ärztin bleibt den ganzen Tag dort. In einer Art Astronautenanzug schwebt sie hinter der Brüstung entlang.
Trotz strenger Hygienevorschriften ist die Stimmung ausgesprochen herzlich. Fast das gesamte Team hat Fluchterfahrungen. Die kubanischen und venezolanischen Ärztinnen sind ebenfalls in der mexikanischen Grenzstadt gestrandet und behandeln die Gäste mit Verständnis. Mit Applaus bekommen heute eine junge Frau und ihr kleiner Sohn ein Gesundheitszertifikat überreicht, das sie befähigt, für die kommenden Monate in eine Herberge umzuziehen. Als mit Sicherheitsabstand und Mundschutz Fotos gemacht werden, stehen ihr Tränen in den Augen. „Eigentlich will ich gar nicht gehen“, sagt sie zaghaft. Nach der aufreibenden Reise durch Mexiko erscheint ihr das Hotelzimmer wie eine Oase.
Die Transfrau Angi
Auch die LGBTIQ-Migrantenherberge Respetttrans erscheint ihren Bewohner*innen wie ein kleines Paradies, ein bunt glitzerndes. Dazu haben sie das heruntergekommene Lagerhaus selbst gemacht. Angi wohnt schon seit zwei Jahren in dem Projekt. Im kleinen Wohnzimmer im Obergeschoss steht ein winziges Aquarium vor einem alten Sofa mit ausgesuchter Kissenkollektion. Am Spiegel flattern selbst gebastelte Papierschmetterlinge und unter dem Fenster ist ein Kakteengarten angelegt.
Im fernen El Salvador hatten Angis Eltern ihren Sohn unterstützt, als der beschloss, eine Tochter zu sein. Doch der Bruder hat seitdem kein Wort mehr mit ihr gewechselt. Eisiges Schweigen auf kleinstem Raum. „Das ist brutal.“
Doch schlimmer noch seien die Verbrechen gegen Transfrauen auf der Straße. „Bei lebendigem Leib werden Angehörige der Community mit Steinen an den Beinen in Flüsse geworfen. Anderen werden die Gliedmaßen abgehakt und makaber durch Äste ersetzt“, berichtet Angi, die ihren Nachnamen nicht veröffentlicht sehen will. Ihr Gesicht verdüstert sich, Silberohrringe klimpern leise. Bandenangehörige und Polizeibeamte agierten im Einklang, sagt sie. „Um nicht selbst zur Schreckensmeldung zu werden, bleibt nur die Flucht nach Norden.“ In den USA hofft Angi auf ein Überleben. In Mittelamerika würden Menschen wie sie nicht alt.
Angi schiebt den Vorhang zur Seite. Die Fensterfront der Herberge bietet einen Panoramablick über die Grenzbrücke Santa Fe und auf die in der Sonne glänzenden Bankgebäude von El Paso. Die Vereinigten Staaten sind nur einen Katzensprung entfernt. „Irgendwann stehe ich da drüben und blicke zurück nach Mexiko“, sagt Angi voller Überzeugung.
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