Mietenentwicklung in Deutschland: Kleiner, teurer, weiter draußen
Neubauwohnungen in Metropolen sind selbst für die Mittelschicht unbezahlbar. Soziale Spannungen vertiefen sich, sagt der Sozialverband.
Auch Eigentumswohnungen lösen nicht das Problem. Berlin-Schöneberg, zum Beispiel, ein Wohnungsneubau mitten in einem kleinbürgerlichen Wohngebiet, kein Park, kein See in der Nähe, Straßenkreuzung vor der Tür. Vier Zimmer hat die neue Wohnung am Barbarossaplatz, Balkon, 106 Quadratmeter, passend für eine vierköpfige Familie. Die Wohnung kostet 846.000 Euro, einfach so.
Der frei finanzierte Neubau in der Metropole wendet sich nur noch an die finanzielle Oberschicht. Eine vierköpfige Mittelschichtsfamilie hat in Berlin ein durchschnittliches Nettoeinkommen von 3.559 Euro, hat das Portal Immowelt ausgerechnet. Selbst wenn schon etwas Vermögen vorhanden ist: solche Neubauten sind unbezahlbar auch für Doppelverdiener mit gutem Verdienst.
„Die Wohnungsfrage spitzt sich zu“, sagte Adolf Bauer, Präsident des Sozialverbandes SoVD, am Donnerstag in Berlin anlässlich der Vorstellung eines Gutachtens, das sich einreiht in andere Studien der jüngsten Zeit (PDF). Die Botschaft ist die gleiche: Die Wohnungsfrage verschärft Spaltungen zwischen den Milieus. „Es steht zunehmend die Frage im Raum, ob das Wohnen unbezahlbar wird“, sagte Bauer.
Das Gutachten beschäftigte sich mit der Mietpreisentwicklung. Es kam zu dem Schluss, dass Haushalte, die erst 2013 oder später neu eingezogen sind, ein Drittel ihres Nettoeinkommens für die Kaltmiete ausgeben. Wer weniger als 1.300 Euro im Monat zur Verfügung hat, muss sogar 46 Prozent für die Wohnkosten berappen. Über 1 Million Haushalte in den Großstädten sind so arm, dass ihr Einkommen nach Abzug der Miete unter den Hartz-IV-Regelsatz rutscht, sagte Bauer.
Für Wohlhabende wurde das Wohnen günstiger
Auch eine Studie des University College in London und der Humboldt-Universität in Berlin kam unlängst zu dem Schluss, dass der Wohnkostenanstieg Ungleichheit verstärkt. Für das ärmste Fünftel der Bevölkerung ist der Anteil der Wohnkosten am Einkommen im Zeitraum zwischen 1993 und 2013 von 27 auf 39 Prozent gestiegen. Die prozentuale Wohnkostenlast für das reichste Fünftel ist in dieser Zeit hingegen sogar gesunken, was auch auf die niedrige Zinslast zurückgeführt wurde. Denn Wohlhabende leben oft im Eigentum.
Heikel wird es, wenn Menschen umziehen wollen oder müssen, etwa weil sie eine Familie gründen und sie eine größere Wohnung suchen. Brisant wird es auch für alte Menschen, wenn der Partner stirbt, nur noch eine Witwenrente übrig bleibt und kleinere bezahlbare Wohnungen fehlen. Existenzangst stellt sich ein, wenn eine Mietwohnung in Eigentum umgewandelt oder aufwendig modernisiert werden soll.
In München muss eine Familie mit mittlerem Einkommen fast die Hälfte ihrer Einkünfte, nämlich 45 Prozent, für Warmmiete ausgeben, wenn sie eine Wohnung neu bezieht, hat Immowelt errechnet. In Frankfurt sind es 39 Prozent, in Berlin etwa gleich viel. Die prozentualen Anteile sind entscheidend, weil Vermieter in der Regel BewerberInnen bevorzugen, bei denen die Wohnkosten nicht mehr als ein Drittel des Einkommens verschlingen. Auf diese Grenze weist auch die SoVD-Studie hin.
Das SoVD-Gutachten beschäftigte sich mit Bestandsmieten, also schon länger dauernden Mietverhältnissen. Stephan Junker, Verfasser des Papiers, wies darauf hin, dass 25 Prozent der Haushalte mit mehr als zwei Personen in zu kleinen Wohnungen leben. Dieser Anteil verweise auf einen größeren Mangel an Wohnungen als angenommen.
Bauer vom SoVD forderte, die Probleme am Wohnungsmarkt nicht alleine dem „Kräftespiel der Wirtschaft“ zu überlassen. Zudem dürfe es bei der Wohnfrage nicht allein um die Stadtentwicklung gehen. Ziel müsse sein, gleichwertige Lebensverhältnisse in Stadt und Land zu schaffen. Viele Menschen ziehen raus aus den Metropolen in Kleinstädte im Umland. Der Immobilienverband IVD stellte allerdings unlängst fest, dass inzwischen auch aus diesem Grund die Mieten in kleinen Städten überproportional steigen.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Politikwissenschaftlerin über Ukraine
„Land gegen Frieden funktioniert nicht“
Bündnis Sahra Wagenknecht
Ein Bestsellerautor will in den Bundestag
Nan Goldin in Neuer Nationalgalerie
Claudia Roth entsetzt über Proteste
Proteste bei Nan Goldin
Logiken des Boykotts
Israelische Drohnen in Gaza
Testlabor des Grauens
taz-Recherche zu Gewalt gegen Frauen
Eine ganz normale Woche in Deutschland