Methodenstreit über Elektronik: „Conceptronica“ versus Feuilleton
Der britische Poptheoretiker Simon Reynolds stellt in einem Essay fest, dass Clubmusik heute oft zu konzeptuell ist – und erntet dafür absurde Kritik.
Übersteuerung, Englisch Overdrive, beschreibt beim Autofahren den Vorgang, im falschen Gang zu viel Gas zu geben und so die Drehzahl des Getriebes unnötig zu überhöhen. In der Popmusik, die ja von Zuspitzung ausgezeichnet lebt, kann Übersteuerung wiederum sehr nützlich sein. Aber auch nur dann, wenn sie nicht zum Selbstzweck gerät. Darauf hat der britische Popkritiker Simon Reynolds in einem viel beachteten Essay für das US-Internetmusikmagazin Pitchfork hingewiesen.
Es heißt „The Rise of Conceptronica“ und untersucht die zunehmende Theoretisierung und Akademisierung von elektronischer Popmusik der bald zu Ende gehenden Zehnerjahre. Zuletzt habe sich das etwa in Werken der US-Künstlerin Holly Herndon und des britischen Produzenten Lee Gamble bemerkbar gemacht, die zwar auf elektronische Dancefloor-Sounds zurückgreifen, aber deren körperliche Anmutung ausgesiebt haben.
Eine Entwicklung, die Reynolds bedauert, weil er die Beweglichkeit, die Anonymität und Inklusion von Ravekultur vermisst. Nicht nur das, der Brite bemängelt auch das Anschmusen an die Closed-Shop-Praktiken der bildenden Kunst sowie das aufdringliche Künstler:innen-Charisma, wie es sich etwa in der Inszenierung von Holly Herndon als Künstliche-Intelligenz-Maschinenstürmerin zeigt.
Durch die zunehmende Fragmentierung von Pop im Internetzeitalter sind phänomenologische Beobachtungen zur Ausnahme geworden. Kaum noch Autor:innen, die sich angesichts von Playlisten, Snippets und Instagram-Bilderflut die Mühe machen, laut über bestimmte Muster in den rasant sich wandelnden Moden, Stilen und Klangsignaturen nachzudenken.
Das hat Reynolds mit seinem „Conceptronica“-Text dankenswerterweise mal wieder getan. Und er provoziert durchaus mit der These, dass man aus Werken wie „Proto“ von Holly Herndon den Antrag auf staatliche Kunstförderung heraushören könne. An dem hochtrabenden konzeptuellen Überbau leide letztendlich die Musik, schreibt Reynolds, die zwar Befreiung von alten sozialen und gesellschaftliche Fesseln verheiße, dies aber nicht einlöse, weil sie nicht befreiend klingt.
Häme, Kulturpessimismus
Dafür setzte es zuletzt Haue. Zuerst von Daniel Gerhardt, der Reynolds bei Zeit Online geantwortet hat und nun von Arno Raffeiner, der in der Neuen Zürcher Zeitung nachlegte. „Kulturpessimismus“ (Raffeiner), „Häme“ (Gerhardt), die beiden Berliner Autoren schwingen die großen Keulen, indirekt attestieren sie ihrem Kollegen gar ein fehlendes Verständnis für queere Positionen.
Raffeiner möchte angesichts von Reynolds’ Überlegungen lieber weiterhin „zu Theorie tanzen“, während Gerhardt sich in die Behauptung versteigt, er will überhaupt nicht mehr in Clubs gehen, was dann auch zur absurden Überschrift wurde: „Früher war mehr los in Clubs“.
Was Reynolds differenziert auseinandernimmt und mit Zitaten aus eigenen Interviews belegt, wird von den beiden ehemaligen Spex-Redakteuren reflexhaft und holzschnittartig in Kommentarform zurückgewiesen. Es ist doch bizarr: In vielen deutschen Großstädten gibt es gute, viel frequentierte Clubs, in denen intelligente elektronische Musik gespielt wird.
Um Reynolds’ berechtigte Kritik infrage zu stellen, spielt Arno Raffeiner, – ausgerechnet in der ultrakonservativen NZZ! –, auch noch die Arschkarte: alter weißer Mann! Dass nun der Autor mehrerer Grundlagenwerke des modernen Popdiskurses identitätspolitisch erfasst wird, ist einfach nur lächerlich. Nach Adam Riese sind Gerhardt und Raffeiner zusammengezählt ohnehin älter als Simon Reynolds. Zudem wirkt diese Intervention zweier ehemaliger Spex-Redakteure wie abgesprochen und ist somit eigentlich ein Fall fürs Bundeskartellamt.
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