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■ Menschen sind nicht grenzenlos qualifizierbar. Viele Langzeitarbeitslose sind auf klar strukturierte Arbeits- plätze angewiesen. Eine Überforderung verletzt ihre WürdeDer Mythos der Flexibilität

„Politik“, so Kurt Tucholsky, „kann man in diesem Land definieren als die Durchsetzung wirtschaftlicher Zwecke mit Hilfe der Gesetzgebung.“ Siebzig Jahre später macht man es sich in Bonn noch leichter: Mit dem Verweis auf globalisierte Märkte überläßt neoliberale Wirtschaftspolitik internationalen Märkten das Primat der Politik. Den fünf Millionen Arbeitslosen, die dabei freigesetzt werden, suggeriert der Schlachtruf von der Qualifizierungsoffensive, daß nicht etwa die Verhältnisse dringlich der Veränderung bedürften, sondern umgekehrt die Arbeitskräfte selbst sich gefälligst zu ändern hätten. Schuld an der Misere der Massenarbeitslosigkeit haben somit jene Arbeitslosen höchstpersönlich, die den Anforderungen des flexibilisierten Arbeitsmarktes nicht gerecht werden. Vor allem jene werden damit ihrer Würde beraubt, die sich ausschließlich über Erwerbsarbeit definieren, da sie keine anderen Identifikationsmöglichkeiten haben.

Das neue Heilsversprechen wirtschaftlicher wie individueller Prosperität beruht auf der Illusion grenzenloser Verfügbarkeit menschlicher Individualität. Tatsächlich verweist die große Zahl von Langzeitarbeitslosen, sogenannten schwer Vermittelbaren oder nur zeitweilig Beschäftigten aber auf menschliche Begrenztheit schlechthin. Die Annahme der grenzenlosen Verfügbarkeit und Qualifizierbarkeit sogenannten Humankapitals erweist sich spätestens dann als inhuman, wenn sie an die eigenen Grenzen stößt. Die Forderung nach immer weiterer Anpassung an globale Wirtschaftsmechanismen zerstört zwangsläufig menschliche Individualität, da diese immer mit Grenzen, Beschränkungen und Eigenarten verbunden ist. Der Sozialphilosoph Günther Anders beschwor die prometheische Scham des Menschen, der sich angesichts scheinbar perfekter Maschinen mit eigener Unvollständigkeit konfrontiert sieht: Scham und der Verlust persönlicher Würde sind der Preis für den Versuch, sich globalen – also scheinbar grenzenlosen – Strukturen anpassen zu wollen.

Jene nicht vermittelbaren Langzeitarbeitslosen sind lediglich die ersten, weil schwächsten in einer länger werdenden Kette von Menschen. Ihr Schicksal zeigt, daß menschliche Kompetenzen immer begrenzt sind. Die Forderung nach permanenter Flexibilität zerstört ihre Individualität. Jede Ideologie, die die menschliche Verfügbarkeit zum Kern hat, ist in ihrem Wesen totalitär, weil sie auf die Vernichtung von Individualität und Persönlichkeit abzielt. Die sogenannten sozialen Problemgruppen beweisen, daß Menschen eben nicht grenzenlos verfügbar sind. Dies mag mit ein Grund dafür sein, daß augenblicklich so zynisch über den angeblichen Mißbrauch sozialer Netze hergefallen wird.

Dem Mangel an hochqualifizierten Arbeitnehmern stehen immer mehr gering qualifizierte Arbeitskräfte gegenüber, die dauerhaft aus dem Arbeitsmarkt herauszufallen drohen. Daran sind bislang alle Maßnahmen zum Abbau oder zur Umverteilung von Überstunden gescheitert. Selbst wenn es gelänge, wenigstens einen Teil dieser Arbeitslosen oder von Arbeitslosigkeit Bedrohten weiterzuqualifizieren – was ernsthaft zu bezweifeln ist –, würde dies lediglich auf eine Verschärfung des Problems hinauslaufen: immer bliebe ein Rest an „harten“, nicht weiter qualifizierbaren Arbeitskräften, die dauerhafter und härter ins soziale Abseits gedrängt würden. Dabei ist eine hochentwickelte Gesellschaft auch künftig auf die Erledigung einfacher Arbeiten im Versorgungs- und Entsorgungsbereich angewiesen.

Die von Arbeitslosigkeit am stärksten betroffenen Problemgruppen sind auf klar strukturierte, grenzen- und haltgebende Arbeitsplätze angewiesen. Solche Arbeitsverhältnisse stellen jedoch das genaue Gegenteil der ideologisch geforderten flexibilisierten Arbeitswelt dar. Die Flexibilisierung verschärft also die Arbeitsmarktprobleme immer größerer Personenkreise, statt sie zu reduzieren. Denn die sogenannten schwer Vermittelbaren verfügen kaum über die Alltagskompetenzen, die sie überhaupt erst für die Arbeitswelt von morgen befähigen würden. Die Qualifizierungsidee, die das technokratische Ideal menschlicher Unbegrenztheit widerspiegelt, steht der Realität von Resozialisierungs-, Reintegrations- und Arbeitsförderungsmaßnahmen diametral entgegen. Praktisch geht es zumeist um Qualifizierungen bei Alltagskompetenzen unter sicherheitsspendenden, strukturierten Bedingungen. Die Qualifizierungsidee stellt demgegenüber eine narzistische Größenidee derer dar, die von ihr reden und jedenfalls bisher noch nicht selbst von ihr betroffen sind.

Häufig wird im ökologischen Bereich eine große Chance gesehen, neue qualifizierte Arbeitsplätze zu schaffen (siehe z.B. die vom Wuppertal-Institut für Klima, Umwelt, Energie verfaßte Studie „Zukunftsfähiges Deutschland“). Doch auch hier müßte sich erst noch erweisen, welche Arbeitnehmer überhaupt für solche qualifizierten Arbeitsplätze geeignet wären. Der beinahe unhinterfragte Konsens über die Qualifizierungsidee verschärft ohnehin bestehende psychosoziale Probleme, da Forderungen gestellt werden, denen viele Menschen nicht nachzukommen in der Lage sind. Naheliegenderweise werden sich dies die Betroffenen entweder selbst zum Vorwurf machen und mit psychosozialen Problemen reagieren. Oder aber der Zorn verwandelt sich in Ressentiments gegen Dritte mit der Entwertung angeblich noch Schwächerer. Das Gefühl persönlicher Würde ist ernstlich verletzt, wenn sich Arbeitnehmer mit Forderungen identifizieren, denen sie jedoch nicht nachzukommen imstande sind (die schlimmste Form der Demütigung).

Ohne staatliche Aufwertung und Wertschätzung einfacher Tätigkeiten durch steuerliche Anreize, die keine Sozialhilfejobs oder ABM-Stellen sind, ohne eine echte sozial-ökologische Steuerreform, zu der auch die Entwicklung neuer Modelle der sozialen Absicherung gehört, werden immer mehr Menschen die für sie erreichbaren Arbeiten ablehnen, weil sie als unehrenhaft und „minderwertig“ gelten. Ohne Zweifel üben die sich verändernden wirtschaftlichen Rahmenbedingungen erheblichen Anpassungsdruck auf den Arbeitsmarkt aus. Nicht wie Menschen verformt werden, sondern wie sie ihre Würde bewahren können, muß politisches Handeln bestimmen. Micha Hilgers

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