„Mensch ärgere Dich nicht“-Jubiläum: Hundert Jahre Schadenfreude

1912 erfand ein Münchner „Mensch ärgere Dich nicht“. Was der Erfolg des Spiels mit dem Ersten Weltkrieg zu tun hat und warum es im Hirn ähnlich wirken soll wie Sex.

Jetzt ne 6… bitte, jetzt ne 6! Bild: dpa

Mit dem Ärger ist das so eine Sache. Ungebremst verlautbart führt er zu heftiger Verstimmung im Umfeld, permanent unterdrückt zu übler Verstimmung im Magen. Doch wer sich nicht tüchtig ärgern kann, sagt der Volksmund, kennt auch keine echte Freude. Also wie verfahren mit dieser vertrackten Gefühlswallung? Rauslassen? Reinfressen? Eine Antwort lautet: Spielen.

Und das seit 100 Jahren. Denn 1912, als der erste Leichtathlet zwei Meter hoch sprang und die „Titanic“ versank, da brachte ein bayerischer Tüftler namens Josef Friedrich Schmidt „Mensch ärgere Dich nicht“ in den Handel. Das „populärste Gesellschaftsspiel der Nation“, wie der Spiegel 75 Jahre später jubelte, war damals zwar noch ein Prototyp, handgemacht in einer Münchner Hinterhofwerkstatt, eher für Schmidts Söhne als für den Massenbedarf.

Doch das sollte sich zwei Jahre später, mit Beginn der Serienproduktion, ändern. Denn der Spaß für vier bis sechs Personen, den Schmidt der indischen Urversion Pachisi, mehr aber noch dem britischen Ludo nachempfunden hatte, er kultivierte etwas Ungewohntes, ja Ungehobeltes, also sehr Erfrischendes in der guten Stube: die Schadenfreude.

Anders als bei den Vorläufern wurde das Rausschmeißen bei „Mensch ärgere Dich nicht“ nämlich von der Variante zum Wesenszug – und damit der Ärger des Gegners. Ein Instinktgefühl wie das Lachen selber. Und irgendwie muss es wohl deutsche Züge tragen – sonst hätten Portugiesen und Polen, Italiener und Spanier, Franzosen wie Engländer „Schadenfreude“ kaum in den eigenen Sprachschatz integriert.

Durchbruch im Schützengraben

Zum Durchbruch kam „Mensch ärgere Dich nicht“ ausgerechnet da, wo die Schadenfreude irgendwie endemisch ist: auf dem Schlachtfeld. Bis zum Ersten Weltkrieg nämlich wollte es kaum jemand kaufen. Also schickte Schmidt, der Spielproduzent in spe, noch vor der Firmengründung 3.000 kostenlose Exemplare an die Front. Aus Patriotismus, so erzählt es heute die Unternehmenshistorie. Mehr aber noch aus Groll über den Misserfolg, der im Schützengraben sein Ende fand: Die heimkehrenden Soldaten spielten zuhause einfach weiter.

„Mensch ärgere Dich nicht“ nun als Fortsetzung des Krieges mit anderen Mitteln zu sehen, ginge aber doch zu weit. Das Spiel macht einfach ohne Aufwand viel Spaß. Und die Lust am Leid anderer hat seine Ursprünge auch eher in der hierarchischen, später ständischen, bald kapitalistischen Gesellschaft als in einer Art deutschen Wesen.

Schadenfreude gab dem Pöbel wenigstens dann ein kurzes Gefühl von Gleichheit vorm Schicksal, wenn die Oberschicht mal in den Dreck stolperte. Sie ist folglich keine Boshaftigkeit, sondern die „kleine Schwester der Niedertracht“, wie die Zeit einmal schrieb: verwandt mit dem Neid, gespeist vom Minderwertigkeitsgefühl, evolutionär überlebenswichtig, „weil sie das Gruppenrudel vor Einzelschmarotzern schützt“. Ein sozialer Kitt.

Und er wird in jener Hirnregion angerührt, die Forscher der Universität London dank mehrerer Spielexperimente auch bei Essen, Sex, Drogenkonsum aktiviert sehen. Es geht um Befriedigung. Da das gesellschaftliche Normenkorsett jener Zeit indes nur ein begrenztes Maß an Spott zuließ, kam Schmidts Spiel in einer humorlos militärischen Klassengesellschaft wie der wilhelminischen grad recht.

Ein Spiel der Gleichheit

Vor der Anleitung waren endlich alle gleich: Eltern und Kinder, Freund und Feind, satt und hungrig, uniformiert und zivil, oben und unten. „Das wohl deutscheste Spiel“, wie es die Spielesammlerin Ulrike Schiefer nennt, muss man so gesehen als Ventil einer Nation im Würgegriff von Anstand und Ordnung sehen.

Umso bemerkenswerter, dass die Berliner Firma mit bayerischen Wurzeln auch in der liberaleren Gegenwart jährlich gut 100.000 der knallroten Kartons mit giftgrüner Schrift und spielerischem Streitpotential verkauft. Das Layout der Schachtel mag dem Zeitgeist gefolgt sein, der genervte Anzugträger über dem geschwungenen „M“ mehrfach Krawatte und Frisur gewechselt haben – im Kern blieb das Design ebenso erhalten wie die entwaffnend simplen Regeln.

Im Grunde, meint Dirk Hanneforth, der als Verfasser des Buchs „Ärger-Spiele“ zum ausgewiesenen Experten avancierte, „ist nichts dran“. “Mensch ärgere dich nicht“ erzähle keine Geschichte, urteilt der Schuldirektor aus Bielefeld, „die Idee ist zu einfach, die Aufmachung verglichen mit heutigen Spielen furchtbar“. Ein optisch unterforderndes, haptisch unspektakuläres, ästhetisch primitives Pappquadrat mit „Pöppeln“ genannten Plastikfigürchen.

Und doch gut 70 Millionen Mal verkauft. Einst für 35 Pfennig, heute zu zehn Euro, erhältlich längst auch als Bodenspiel oder Reise-Mini, auf CD-ROM oder Friesisch, mit Automatikwürfeln oder Jokerkarten, im Pyramiden- oder Retrolook.

In Frankreich heißt es „Mach dir nichts draus“

Der Name des Spiels variiert von Land zu Land: Franzosen spielen aufmunternd „Mach dir nichts draus“, Amerikaner folgebewusst „Frustration“, Polen kryptisch „Chinese“. Vor allem aber Deutsche sollen sich bloß nicht ärgern, tun es aber doch beständig. Bei Landesmeisterschaften, unter Wasser oder 136 Stunden am Stück.

Als Inventar jedes gut sortierten Elternhaushalts ist das Spiel derart wichtig für die hiesige Popkultur, dass Gerhard Polt daraus einen brillanten Sketch machte und Sat.1 eine weniger brillante Show namens „Promi ärgere Dich nicht!“. Es ist aber sogar so bedeutsam, dass vor zwei Jahren gar eine Briefmarke anlässlich des hundertsten Geburtstags herauskam, mit dem üblichen Ablauf als Motiv: Zwei lachen, einer wütet, das Brett fliegt, Spiel aus, alles von vorn.

Doch mit diesem vermeintlichen Jubiläum lag die Post ebenso so daneben wie das Online-Lexikon Wikipedia, die das Erscheinungsjahr des Spiels ebenfalls auf 1910 terminiert. Zumindest offiziell ist das nicht richtig: Selbst der Hersteller hatte sich zunächst auf 1912 festgelegt, als das Spiel erstmals im Handel aufgetaucht war, was Spielforscher Hanneforth bestätigt.

Mittlerweile jedoch jubiliert Schmidt-Spiele lieber 2014, im Jahr der Firmengründung. Betriebswirtschaftlich trifft es das sogar besser: Ohne „Mensch ärgere Dich nicht!“ gäbe es da nicht viel zu feiern.

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