: Wegen der Hühner
Revolution ist nur noch Folklore. René Pollesch eröffnet die Spielzeit am Deutschen Theater Berlin mit frischer Lüftung und Schauspielstars
Von Katrin Bettina Müller
Die lüftungstechnische Anlage ist umgestellt. Die gesamte Raumluft wird innerhalb einer Stunde zwei- bis dreimal mit Frischluft von außen erneuert. Darüber informiert die Webseite des Deutschen Theaters Berlin unter dem Menüpunkt: „Ins Theater? Aber sicher!“ Man spielt wieder und sieht sich vor. Jede zweite Sitzreihe ist ausgebaut, höchstens ein Viertel der bisherigen Platzkapazität wird genutzt.
In Berlin legten am Wochenende gleich mehrere große Häuser los, das Staatsballett gab eine Gala in der Deutschen Oper, am Maxim Gorki Theater inszenierte Hakan Savaş Mican „Berlin Oranienplatz“, die Volksbühne zeigte eine Uraufführung von Alexander Eisenach, „Der Kaiser von Kalifornien“. Das Deutsche Theater begann mit einem Stück von René Pollesch. Überall gilt Maskenpflicht und der Zugang ist mit den Hygieneregeln abgestimmt.
Seltsam fühlt sich das an. Zumal am Samstag die Stadt voll war mit Demonstrant:innen gegen die Coronaregeln. Und man den Weg ins Theater schon gut planen musste, um nicht mit Reichsdeutschen zusammenzutreffen.
Auf der Bühne wird dann eher die rote Fahne geschwenkt und ein zierliches Muster von Hammer und Sichel prägt die Tapeten einer Guckkastenbühne, deren Wände je nach Bedarf auf- und zugeklappt werden. Ab und zu fragen Martin Wuttke oder Kathrin Angerer mit Bedauern in der Stimme: „Wo ist die Zärtlichkeit des Kriegskommunismus geblieben?“
Was wird gespielt? „Melissa kriegt alles“, so der Titel des Stücks, in dem dieser Satz genau einmal vorkommt. Sechs Schauspieler:innen treten auf, wechseln ausgiebig die Kostüme – viel russische Fellmützen und viel Revolutionsfolklore ist dabei – und staunen sich an: „Siehst du toll aus.“ Das hat einen bescheidenen Witz. Eine Bank soll ausgeraubt werden, durch einen Tunnel aus der Pizzeria nebenan, aber der Plan für den Bankraub ist zugleich die enge Zweizimmerwohnung, durch die alle trampeln (mit Abstand!) und weder die Bank noch die Pizzeria finden können.
Das ist Nonsens und Widerspruch mit System. Denn vor allem beschäftigt sie als Schauspieler:innen das Paradox, etwas darzustellen und gleichzeitig dessen Gegenteil. Sie gehen dabei verschiedene Episoden der Film- und Theatergeschichte durch, die Pollesch schon in früheren Stücken beschäftigten: Das ist einerseits „Opening Night“ von John Cassavetes mit Gena Rowlands, ein Meilenstein des amerikanischen Method Acting, die mit der Authentizität des eigenen Lebens in die Rollen springt. Das wird gleichermaßen bewundert wie wegen seiner Zugehörigkeit zum Kapitalismus kritisiert. Andererseits geht es um das epische Theater von Brecht, das eben nicht auf die Identifizierung mit der Rolle setzte, und den Brechtklassiker „Mutter Courage“. Helene Weigel, berühmt in dieser Rolle, habe dann aber doch die Mutterrolle in ihr Leben integriert, als Mutter des Theaters, die sich um Schuhe und Kuchen für alle kümmerte, stellen die Schauspieler:innen verärgert fest.
Nach etwas Drittem zwischen diesen beiden Polen des Authentischen und des Verfremdeten zu suchen, bringt das diesmalige Pollesch-Team auf den Begriff der Trance. Trance, so erklärt es sich Franz Beil, bedeutet widersprüchlichen Anweisungen folgen: Sei sparsam wegen Hartz IV, aber kaufe Bio-Eier wegen der Hühner. So steht er dann völlig blockiert im Supermarkt und kommt keinen Schritt voran.
Und so recht voran kommen sie auf der Bühne auch nicht; aber vermutlich ist das der Zustand, um dessen Ausmalung es geht; Hektik bei gleichzeitigem Stillstand. Passt im Nachhinein besehen doch ganz gut zur derzeitigen Befindlichkeit. Solange man aber noch im Theater sitzt, ist eher Ungeduld zu spüren. Kommt da jetzt noch was oder machen die immer weiter so? Springen von einer Idee zur nächsten. Ach diese Stange hier, sagt Jeremy Mockridge, da erwarte ich eigentlich, dass ein Feuerwehrmann auftritt, und dann rutscht er professionell die Stange runter. Sie habe immer schon mal Anna Karenina spielen wollen, meint Katrin Wichmann und erzählt dann von frustrierenden E-Castings, wo sie allein in ihrer Wohnung spielen soll, wie die Mafia sie überfällt. Bernd Moss entdeckt, dass sie die ganze Zeit in die falsche Richtung gespielt haben, weil das Publikum hinter ihnen sitzt, und da sieht man in Filmbildern tatsächlich dichte Publikumsreihen – ein Bild aus einer anderen Zeit.
„Kritik ist immer genug da, aber das Wohlwollen fehlt“, sagt Martin Wuttke. „Aber das ist doch ein Banküberfall“, entgegnet Kathrin Angerer. Mit Wohlwollen ist man gekommen an diesem Abend, auf jeden Fall, man würde gerne jubeln, alle diese Mühe in dieser schwierigen Zeit. Aber dann starrt man doch etwas bedröppelt auf diese Häppchen. Mehr ist gerade nicht drin.
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