Meister der leichten Muse: Pfiffe, Walzer, Widerstand
Vor 150 Jahren wurde Salo Siegfried Translateur geboren. Sein „Sportpalastwalzer“ wurde zur Erkennungsmelodie des populären 6-Tage-Rennens.

Der sportliche Klassiker zog die Menschen in seinen Bann, Runde um Runde. Der musikalische Klassiker begleitete ihn, Umdrehung für Umdrehung. Das 6-Tage-Rennen war eine herausragende Großveranstaltung im Berlin der „Goldenen Zwanziger“ – und ein Walzer wurde 1923 seine markante Erkennungsmelodie.
Der beliebteste deutsche Radsportwettkampf wurde 1909 in den Ausstellungshallen des Zoologischen Gartens ausgetragen und ab 1911 im „Sportpalast“ in Schöneberg. Das Rennen begeisterte die vornehme Gesellschaft ebenso wie die breite Bevölkerung. Weit bekannter als alle einstigen Sieger ist heute jedoch die Musik, die es untermalte: Der „Sportpalastwalzer“, dessen Name eigentlich ganz anders lautete und dessen Komponist vor 150 Jahren auf die Welt kam.
Salo Siegfried Translateur wurde am 19. Juni 1875 im oberschlesischen Carlsruhe geboren. Sein Weg führte früh zur Musik, für deren Studium er nach Breslau, Wien und Leipzig ging. 1909 ließ er sich in Berlin nieder – als Kapellmeister. Translateur dirigierte sein eigenes Orchester, hatte sein bekanntestes Werk aber bereits einige Jahre zuvor geschaffen – im Alter von 17 Jahren. 1892 hatte er Lebenslust und Leichtigkeit auf der bekanntesten österreichischen Festwiese in Takt und Tanz verewigt. Das „Wiener Praterleben“ wurde seine erfolgreichste Komposition, ein Walzer in kontinuierlichem Dreivierteltakt, mit einer Melodie voll von Sehnsucht, Sanftmut und galanten Zwischenspielen.
Das Stück wurde beliebt, auch außerhalb Wiens, und durch einen Kunstgriff: Translateur hatte zu Beginn der zweiten Walzersequenz in sein Werk ein vierfaches Händeklatschen aufgenommen. Dieses Signal wurde auf dem Wiener Prater genutzt, um einen „Vorzugstanz“ zum Preis von vier Kreuzern anzukündigen.
Musikgeschichte auf eigene Weise
1923 wurde der Walzer zum ersten Mal beim 6-Tage-Rennen in Berlin gespielt – und es schlug die Stunde von Reinhold Habisch, des leidenschaftlichsten Radsportfans der Reichshauptstadt. Habisch, geboren 1889, hatte in seiner Jugend den großen Traum einer eigenen Radsportlaufbahn aufgeben müssen: Die Sehnen seines linken Beins wurden beim Unfall mit einer Straßenbahn durchtrennt. Mit gerade einmal 16 Jahren war er fortan auf eine Gehhilfe angewiesen, die ihm jenen Spitznamen einbrachte, den er mit Humor trug: „Krücke“.
Die Liebe zum Radsport blieb. Habisch heizte als Possenreißer die Stimmung beim 6-Tage-Rennen an, am liebsten auf dem „Heuboden“, der preiswertesten Sitzplatzkategorie unter dem Hallendach des „Sportpalastes“. Musikgeschichte schrieb er auf eigene Weise: „Krücke“ ersetzte den Klatschrefrain des Walzers durch eins, zwei, drei, vier scharfe Pfiffe, die durch die Halle gellten – freudig und schnell als massenwirksames Markenzeichen der gesamten Veranstaltung, denn das Publikum tat es ihm bald gleich. Das „Wiener Praterleben“ wurde so zum „Sportpalastwalzer“ und einem festen Bestandteil des 6-Tage-Rennens. Translateur selbst berichtete: „Die ganze Galerie pfeift mit; ein Freund von mir hat einmal gezählt, dass der Walzer in einer halben Stunde achtmal gespielt wurde.“
Der Komponist hatte 1911 in Berlin seinen Musikverlag „Lyra“ gegründet, der ab 1933 als „Lyra Translateur & Co.“ firmierte – nach Beteiligung seines Sohnes Hans am Unternehmen. Der Naziterror jedoch traf ihn hart: Der „Sportpalastwalzer“ wurde vom NS-Regime bereits 1933 verboten. Der Künstler galt in der rassistischen Weltsicht der Nazis als „Halbjude“. Der Sohn Hans flüchtete 1933 nach Südafrika.
Berlin pfiff auf das Verbot des Tanzes – im wahrsten Wortsinne. 1934 wurde das vorerst letzte 6-Tage-Rennen ausgetragen. Das Orchester spielte den verfemten Walzer, das Publikum begleitete ihn in gewohnter Weise. Die Pfiffe gellten aber durch eine kaum ausgelastete Halle: Das NS-Regime hatte zum 1. Januar 1934 in das Regelwerk eingegriffen. Die Neuerungen schreckten viele internationale Radsportstars ebenso ab wie Besucherinnen und Besucher. Das Rennen durfte insbesondere nicht mehr rund um die Uhr gefahren werden, was ihm die Faszination nahm. Das Festival endete nach 25 Jahren in Berlin unter der Regelungswut der Nazis und in finanziellen Schwierigkeiten.
Komponist leidet unter dem Naziterror
Translateur litt indes unter dem immer stärker werdenden Naziterror. Der Komponist wurde 1937 aus der „Reichsmusikkammer“ des NS-Regimes verstoßen. Die Aufforderung zur Liquidation seines Verlages folgte – zumal dieser als „nicht-arische Firma“ bereits 1934 aus dem „Adreßbuch des Deutschen Buchhandels“ getilgt worden war. Der erzwungene Verkauf von „Lyra Translateur & Co.“ wurde am 31. Mai 1938 abgeschlossen.
Eine Spurensuche führt nach Wilmersdorf, wo seine Familie seit 1915 in der Güntzelstraße 15 wohnte. Meta und Salo Siegfried Translateur lebten hier bis zur Deportation im Frühjahr 1943 in das Ghetto Theresienstadt. Joseph Goebbels hatte im Februar desselben Jahres im „Sportpalast“ zum „totalen Krieg“ aufgerufen. Die Propaganda der Nazis übertönte nach der Niederlage von Stalingrad mit lautstarkem Hass die Erinnerung an den einst hier gespielten Walzer. Der Komponist war von den Nazis zudem mit Zwangsarbeit gepeinigt worden.
Stolpersteine vor der Güntzelstraße 15 bezeugen seit dem Herbst 2024 den letzten Weg der Eheleute Translateur. Die Tatsache aber, dass deren Leben auch mit einem anderen Haus in Wilmersdorf verbunden war, ist unsichtbar geblieben. Hans Dünnebeil, geboren 1883, führte in der Bayerischen Straße 12 seinen Musikverlag „Afas“. Der Unternehmer ging gegen das NS-Regime in den Widerstand. Dünnebeil unterstützte mehrere verfolgte Mitmenschen, unter ihnen das Ehepaar Translateur, das er jedoch nicht zu retten vermochte.
Der Verleger verstarb 1961 und wurde posthum in der Initiative der „Unbesungenen Helden“ anerkannt. Dieses Programm bestand von 1958 bis 1966. Der Senat von West-Berlin zeichnete mit ihm mehr als 750 Personen aus, die sich den Nazis widersetzt hatten – insbesondere durch Hilfe für Jüdinnen und Juden. Die Taten von Hans Dünnebeil sind im Straßenbild nie dokumentiert worden, in der Bayerischen Straße 12 findet sich keine Gedenktafel zu seinen Ehren.
Translateurs Ende war bitter
Das Ende der Eheleute Translateur war bitter: 1944 fielen beide im Ghetto Theresienstadt dem Holocaust zum Opfer – Salo Siegfried am 1. März, Meta am 20. Dezember.
Der „Sportpalastwalzer“ lebte nach dem Ende des NS-Regimes wieder auf – ebenso wie das 6-Tage-Rennen, das in Berlin ab 1949 erneut ausgetragen wurde. Das Werk von Translateur wurde wieder die melodische Begleitung des Wettkampfes, der aber nicht mehr den Glanz der „Goldenen Zwanziger“ auszustrahlen vermochte. 1964 verstarb auch Reinhold „Krücke“ Habisch.
Der „Sportpalast“ wich im Herbst 1973 der Abrissbirne. An seinem Standort wurde eine mehrgeschossige Wohnanlage erbaut, im damaligen West-Berlin als „Sozialpalast“ bezeichnet. Der Schatten dieses gewaltigen Betonbaus fällt inzwischen auf ein Mahnmal zu Ehren von Salo Siegfried Translateur: „Ewiger Anklang“ heißt der Erinnerungsort in der Pallasstraße, der 2023 kreiert wurde – 100 Jahre, nachdem beim 6-Tage-Rennen zum ersten Mal sein bedeutendster Walzer gespielt worden war.
Die Künstlerin Chelsea Leventhal schuf das Denkmal. Die Schritte eines Walzers führen auf abgebildeten Tanzschuhsohlen über Bodenplatten aus Beton. Die Spuren werden dabei immer blasser. Die Inschrift „Ewiger Anklang / Siegfried Translateur / 1875 – 1944“ wird von einem QR-Code ergänzt, der zu einer Audiokomposition über Weg und Werk des Künstlers führt. Die Gedenkstätte befindet sich dort, wo einst der Vorplatz des „Sportpalastes“ lag.
Die Einweihung des Klangdenkmals erfolgte im März 2024 – 80 Jahre nach dem Tod von Salo Siegfried Translateur. Seine Musik lebt weiter, insbesondere sein bekanntestes Werk, für das er im 19. Jahrhundert mit einem Honorar von 20 Reichsmark entlohnt worden war. Der Komponist wurde 1925 zu seinem 50. Geburtstag als „Meister der leichten Muse“ bezeichnet – ein Ehrentitel, der durch den „Sportpalastwalzer“ besonders deutlich wird.
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