Meine Straße: Alternativschmuddel
■ Mittendrin in Kreuzberg, und doch verschlafen und ein wenig vergessen
„Der Islam ist eine Religion der Liebe“ hat jemand in großen Lettern an ein Haus in meiner Straße gesprüht. Ein Sprüchlein, das gut korrespondiert mit einem anderen an derselben Hauswand: „Ich hasse euch alle“. Mehr als Graffiti- Dialektik gibt es aber nicht in diesem Abschnitt der Kreuzberger Graefestraße, die ich seit gut einem halben Jahr „meine Straße“ nennen darf.
Es ist dies der Teil der Graefestraße, der nicht so richtig zum sogenannten Graefekiez gehört, der „schlechte“ und nicht verkehrsberuhigte zwischen Urbanstraße und Hasenheide. Nüchterne Wohnhäuser aus den 60er und 70er Jahren stehen hier, die ev. Melanchthon-Gemeinde sorgt sich eher nüchtern als engagiert um ihre Mitglieder, und eine Alt-Berliner Kneipe nennt sich ausgerechnet „Mittendrin“, ohne daß innen oder außen irgend etwas an ihr nach pulsierendem Leben aussähe. Es gibt hier wirklich keinen Hinweis darauf, daß die Graefestraße in den Achtzigern und frühen Neunzigern zu den beliebtesten Wohnstraßen in Kreuzberg gehört hat. Modell für anders, alternativ und „im Kiez“ wohnen, noch nicht Kreuzberg 36, aber auch lange nicht so schick und teuer wie andere Gegenden im früheren 61.
Zwischen Urban- und Dieffenbachstraße entfaltet sich der erste, mittlerweile leicht morbide Alternativcharme der Straße. Zwar macht sich hier anfangs noch der rauhe und ein wenig zwielichtige Einfluß der Urbanstraße bemerkbar: Man passiert Imbisse, einen Billig- Italiener und wenig einladende Kneipen wie „Graefeeck“, „Cafe Umut“ und „Bierhaus Urban“, alles wirkt ein wenig schmuddelig.
Doch nach und nach wird die Atmosphäre – nicht zuletzt durch die Verkehrsberuhigung – entspannter, kinderfreundlicher und richtig nachbarschaftlich. Mit Bio- und Schnickschnacklädchen, die mitunter keiner braucht, aber auch mit alteingesessenen Händlern wie dem Uhrmacher Göring oden dem Eisenwarenhändler Erdmann.
Hat man, wie ich, jahrelang in der Sonnenallee und am Hermannplatz gelebt, drängt sich in der Graefestraße des öfteren der Eindruck von Verschlafenheit auf: nicht nur weil viele der Geschäfte zwischen 13 und 15 Uhr geschlossen haben (Mittagspause! Es grüßt die dörfliche Heimat, die Eltern, die ebenfalls viel Wert auf eine Mittagsruhe legten. Welch qualvolle Stunden für einen Heranwachsenden!). Auch weil sonst einfach so gar nichts los ist auf der Straße und den Bürgersteigen, trotz der zahlreichen Läden und dem ewigen Griechen mit seinen vielen Sitzbänken an der Ecke zur Boeckhstraße. Das Leben ist anderswo und auf dem Kottbusser Damm. Nur die Schüler, die in den Pausen aus den zahlreichen im Kiez gelegenen Schulen strömen, sorgen für kurze Zeit für ein wenig Dampf und Spannung.
Überhaupt scheinen viele Leute die Gegend tatsächlich zu verlassen: Vor den Häusern stehende Robben&Wientjes-Wagen gehören zum Straßenbild, selten wird ein-, fast immer ausgezogen, und mein Vermieter hat eine Aktion gestartet, die „Mieter werben Mieter“ heißt, Prämien natürlich incl. Und so mögen die Gerüchte stimmen, noch nie sei es so einfach wie in diesen Tagen gewesen, in der Graefe-, Boeckh- oder Dieffenbachstraße eine nicht ungünstige Wohnung zu bekommen.
Die leerstehenden Geschäftsräume in „meinem Teil“ der Graefestraße, dem zwischen Boeckhstraße und Kottbusser Brücke, bestätigen diesen Exodus: „Etwas mehr“ in der Nummer 5 steht verwaist; das „Ristorante Picolo Castello“ ist noch voll ausgestattet, macht aber nicht den Eindruck, als würde es noch einmal seine Pforten öffnen; das ehemalige Bestattungsinstitut August Suhr dient als Lagerraum; und selbst die Rouleaus des türkischen Textilien-Import-Export-Geschäfts dürften wohl nicht mehr hochgezogen werden.
Wie eine Metapher auf diesen Verfall thront am Ende der Straße der Fox-Markt mit seinen Ramsch- und Billigangeboten. Schrauben und Muttern aber gibt es im Fox-Markt nicht, die verkauft Herr Erdmann weiter oben in seiner Eisenwarenhandlung. Einzeln, für wenige Groschen und nach der Mittagspause, versteht sich, aber freundlich und ohne daß ihm die niedrige Gewinnspanne irgendetwas auszumachen scheint. Gerrit Bartels
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