: Meine Karriere im DDR-Kindergarten
Hat der jahrelange Besuch eines Kindergartens im Arbeiter-und- Bauern-Staat seelisch verheerende Spätfolgen? Hat der kollektive Gesang von Pionierliedern die Kinder hartnäckiger indoktriniert, als sich Westmenschen vorzustellen vermögen? Womöglich war alles ganz anders. Mecklenburgische Erfahrungen aus der Provinz, erzählt ■ von Andreas Hergeth
Eine Freundin in Schwerin weiß, wie sie mich ärgern kann. Sie singt so lange ein altes Pionierlied, bis ich die Melodie aufgenommen habe und sie für den Rest des Tages nicht mehr loswerde. „Kleine weiße Friedenstaube / fliege übers Land / allen Menschen, großen, kleinen / bist du wohlbekannt...“
Das Repertoire der ehemaligen Pionierleiterin ist riesig und fällt bei mir auf fruchtbaren Boden. Gelernt ist gelernt. Der halbe Osten könnte einstimmen. Die DDR war ein sangesfreudiges Land, beträllerte das Wandern genauso wie die Errungenschaften des Sozialismus oder die Friedensliebe des Landes. Fröhlich sein und singen hieß sogar eine Zeitschrift für Kinder, die ich gerne las. „Und wir wünschen für die Reise / Freude und viel Glück / kleine weiße Friedenstaube / komm recht bald zurück...“ Das habe ich auch immer gedacht, wenn mich Oma in den Kindergarten unseres Dorfes brachte.
Die Krippe blieb mir dank Großmutter zwar erspart, aber am Kindergarten führte kein Weg vorbei. „Weil Mutti früh zur Arbeit geht“, wie uns ein schönes Kinderlied beibrachte. Und schließlich tut so ein Kindergarten nicht weh, wie man mir erklärte. Auch sollte ich was lernen, und es kostete so gut wie gar nichts. Überhaupt: Alle anderen Kinder aus dem Dorf gingen doch auch dahin. Gruppendynamik – nur kannte das Wort damals noch keiner.
Hier wollten mir die „Tanten“ also etwas beibringen. Als erstes lernte ich, daß im Kindergarten keine Straßen-, sondern Hausschuhe zu tragen sind, daß man sich zum Spazierengehen in Zweierreihen, an den Händchen haltend, aufzustellen hatte, daß es – kurz gesagt – immer irgendwelche Regeln gab, die man zu befolgen hatte. Wenn nicht, ging es zur Strafe in die Ecke. Oder noch schlimmer: Einmal wurde ich, weil vorlaut, ans Ende der Spazierzweierreihe gestellt! Allein!
Doofe Tante! Das durfte ich aber nicht laut sagen. Doch meist fand ich die Damen nett. Bis auf eine. Jedesmal, wenn ein Kind pupste, wollte sie wissen, wer „das nun schon wieder war?“ und schaute uns lieben Kleinen doch glatt der Reihe nach in die Unterhosen. Das habe ich bis heute nicht verstanden: Hinterläßt ein normaler Furz eine Spur im Schlüpfer? Na ja, traumatische Folgen hatte das Ganze nicht. Neben viel Spiel, Spaß und sportlicher Betätigung im Kollektiv lernte ich schon mal die Farben, ein paar Zahlen und die Uhr.
Nur Schlafen auf Kommando im Gruppensaal war grausam. Auch wenn ich nicht schlafen konnte, mußte ich liegenbleiben. Dafür habe ich mich ganz subversiv gerächt: Tomaten waren wie Bananen oder Negerküsse (so hießen die damals noch) Mangelware. Ab und an gab es die roten Dinger im Kindergarten. Ich fand sie abscheulich. Nur mußte man sie essen, nicht mal verschenken war erlaubt. So ein blödes Verbot – war die DDR doch eine richtige Diktatur? – wollte mir nicht einleuchten. Also tat ich so, als ob ich die Tomate auf der Schaukel verspeisen würde. Ich schaukelte höher und höher und flugs landete das Ding weit hinterm Zaun.
Und dann waren da noch die schönen Gespräche mit den Kindergärtnerinnen über Dinge wie Bäume und Tiere des Waldes, Früchte der Felder, Frieden und Soldaten, Sozialismus und Erich Honecker. Würde es den „antifaschistischen Schutzwall“ nicht geben, könnten wir nicht in Frieden leben. Und die Soldaten sind unsere Freunde, weil sie uns beschützen. Vor dem bösen Feind. Aber so genau kann ich mich selbst nicht mehr daran erinnern.
Doch ich weiß noch, wie einst mein damals sechsjähriger Neffe reagierte, als er ein Bild von Honecker sah: „Das ist mein Freund!“ Noch Fragen? Als Kind grübelt man nicht weiter über Sinn und Unsinn von Kindergartenalltag nach. Haben doch alle mitgemacht. Und Fasching war auch immer total schön! Oder der Pioniergeburtstag. Immer am 13. Dezember, dem Gründungstag der Pionierorganisation, war Fete. Mit Kinderbowle, Disco und so.
Aber ohne politische Phrasen. Die gab es ja fast jeden Mittwoch während der Pioniernachmittage gratis. Mal haben wir einfach nur gebastelt, einen Ausflug unternommen, Schnitzeljagd gespielt oder über die „Gesetze der Jungen Pioniere“ gesprochen. Die stammten aus dem Jahre 1953, und wir alle schworen, sie stets einzuhalten. Wir DDR-Kinder sollten im Kampf um den Frieden helfen, die Freundschaft mit der Sowjetunion pflegen, unsere Eltern achten, vorbildlich lernen, pünktlich, ordentlich und sauber sein. Klingt doch deutsch, nur sozialistisch angereichert.
Dabei habe ich einen richtigen sowjetischen Soldaten nie von nahem gesehen, obwohl die überall stationiert waren. Und wie sollte ich als kleiner Knirps den Friedenskampf unterstützen? So malte ich Plakate: „Laßt Angela Davis frei!“ Außerdem hatte ich eine Dokumentation vom Parteitag zu verfassen, ohne zu verstehen, worum es da eigentlich ging. Ich gestaltete mit Inbrunst Wandzeitungen zum Thema Frieden mit großen, selbstgemalten Friedenstauben. Ich war im Pioniergruppenrat und habe das Milchgeld kassiert.
Ich schrieb eine persönliche Verpflichtung: Ich will gut lernen, um so den Frieden zu stärken. Absurd? Fand ich erst später. Alle um mich herum taten das gleiche. Auch wenn wir uns, älter geworden, manchmal fragten, was der ganze Scheiß soll: Friede, Freude, Eierkuchen.
Man konnte sich über vieles lustig machen. Beispiel Fahnenappell. Die ganze Schule tritt an. Die Fahne wird gehißt und will nicht hoch. Das Mädchen, das dazu ein Loblied auf die DDR aufzusagen hat (“Für Frieden und Sozialismus seid bereit – immer bereit!“), verhaspelt sich. Das machte Laune. Einmal im Monat durften wir unsere Kassetten mitbringen, etwas zu den Westbands erzählen und dann auf „Play“ drücken. In Englisch lasen wir gar was von Bob Dylan. Nur der Physiklehrer war einer der alten Schule, der gerne mal zulangte.
Der eine war streng, der anderen tanzten wir auf der Nase herum. Alles halb so schlimm. Schulalltag eben. Nichts, worüber ich damals oder heute groß nachdenken müßte. Hat mir die sozialistische Erziehung irgendwie geschadet? Nö. Wenn doch, merke ich bislang nichts davon. Nur einmal kamen mir Zweifel. Kurz nachdem ich beim Pfingsttreffen 1984 in Berlin Honecker mit „Winkelementen“ zujubelte, sah ich im Westfernsehen etwas über Naziaufmärsche. Aber weshalb hat die DDR so was Ähnliches nötig?
Hinterfragt habe ich die Sache nicht. Das System in Frage gestellt schon gar nicht. Höchstens gemeckert. Auch, als ich im verhaßten Wehrkundeunterricht Marschieren und Robben lernen mußte. Bloß nicht dran denken. Dafür erinnere ich mich öfter an Staatsbürgerkunde zurück. In „Stabü“ lernten wir, warum die DDR sich zu den führenden Industriestaaten der Welt entwickelt hatte. Wie böse der Kapitalismus ist. Oder welche Bedeutung die Arbeiterklasse hat. Die schafft die gesellschaftlichen Werte, weiß ich noch heute.
Nur warum die Arbeiterklasse in der DDR keine Walkmen herstellte, konnte uns unsere Lehrerin nicht erklären. Dafür verschenkte sie ab und an Fotos an ihre besten Schüler. Ich gehörte dazu, weil ich immer prima erklären konnte, warum wir, die DDR, die Guten sind, die anderen, die BRD, die Schlechten. Mit vierzehn Jahren kann man das leicht. Eins der Fotos habe ich heute noch. Amanda Lear, die zwar im DDR-Fernsehen singen durfte, aber nie in einer der Zeitschriften auftauchte, war eine Rarität. Ihr Bild war von einer Westschallplatte abfotografiert.
So war unsere Staatsbürgerkundelehrerin, die auch zugab, ab und an Westfernsehen zu gucken (“der Standpunkt ist alles“). Heute ist sie, wie eigentlich alle anderen Lehrer von einst, immer noch an meiner alten Schule. Sie unterrichten die ersten Nachwendegenerationen. Niemand hat damit Probleme.
Andreas Hergeth, 32, Stahlschiffbauer, Kulturwissenschaftler und Journalist, wuchs in Gallin/Mecklenburg auf. Seit sieben Jahren lebt er in Berlin
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